Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
zurück«, sagte Yron. Seine leisen Worte waren voller Verehrung. »Wenigstens diesen Respekt hatten sie verdient.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Ben.
»Es ist ein Glaubenssatz der Elfen. Einer von vielen. Alles Leben kehrt im Tod in den Wald zurück. Alles wird gebraucht. Wir waren es ihnen schuldig, sie zu ehren und sie nicht zu verbrennen.«
»Oh, ich verstehe.«
»Im Regenwald gibt es keine Friedhöfe, Ben. Eine Leiche zu verbrennen, ist Verschwendung.«
Yron hörte ein winziges Geräusch. Es war kaum wahrnehmbar, aber er war sicher, dass es nicht von einem Tier stammte. Er legte einen Finger auf die Lippen und winkte Ben-Foran in den Schutz einer Pflanze mit breiten
Blättern, die im Schatten einer Palme wuchs. Der junge Mann kannte seinen Vorgesetzten gut genug, um keine Fragen zu stellen.
Überrascht, dass er nicht längst tot war, beobachtete Yron die geschmeidigen Elfen, die nur wenige Schritte an ihnen vorbeigingen. Er konnte nicht umhin, ihre sparsamen Bewegungen zu bewundern. Sie waren nahezu unsichtbar, kaum mehr als Schatten auf dem Waldboden.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als er sich zu Ben-Foran umdrehte und ihm bedeutete, sich still zu verhalten. Der junge Soldat sah ihn fragend an und nickte in Richtung der Elfen. Er hatte eine Hand auf den Schwertgriff gelegt.
Yron schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. Er sondierte den Boden vor seinen Füßen und machte sehr vorsichtig einen Schritt, um sich seinem Adjutanten zu nähern.
»Wir müssen die anderen warnen und ihnen helfen«, flüsterte Ben-Foran.
»Wir kämen keine zwanzig Schritte weit«, widersprach Yron, dessen Lippen Bens Ohren beinahe berührten. Er sprach sehr leise. »Ich weiß, wie schwer es ist, aber die Götter haben uns aus irgendeinem Grund verschont, sonst wären wir längst tot. Wir setzen uns in Bewegung, wenn der Angriff beginnt, und folgen Erys.« Er hielt inne und sah Ben an. »Es wird nicht schön werden.«
Auum bewegte sich geschmeidig über den Waldboden, Duele und Evunn folgten ihm wie Schatten. Sie hatten nicht weit vom Lager der Fremden entfernt an einer Stelle, die frei war von ihrem Gestank, gerastet und gebetet. Den brutal freigehackten Weg, den der Wald bereits wieder zurückeroberte, hatten sie gemieden und sich
an natürliche Pfade gehalten. Sie wollten in der Morgendämmerung am Tempel eintreffen, wenn Cefu besonders prächtig erstrahlte und ihre eigene Kraft besonders groß war.
Schon lange bevor sie einen von ihnen tatsächlich sahen, spürten sie die Fremden im Tempel. Der Wald war in Aufruhr, Tuals Geschöpfe waren ob dieser achtlosen Zerstörung erregt. Die TaiGethen spürten es tief in sich selbst. Es war, als habe Yniss sich abgewandt und seine Aufmerksamkeit auf ein anderes Ziel gerichtet. Das Ungleichgewicht, das die Fremden in den Wald gebracht hatten, war nur ein kleiner Teil davon. Was Auum und seine Gefährten fühlten, ging viel tiefer, es berührte die Existenzgrundlage des gesamten Elfenvolks. Er spürte es in der Luft und schmeckte es im Regen. Es durchströmte ihn und störte die Mana-Spuren, und er hörte es im Rascheln des Windes im Blätterdach. Es war überall.
Auum empfand einen ungewohnten Anflug von Furcht. Die Harmonie war gestört. Er wusste, dass es ernst war, doch damit musste man sich später im Gebet und in der Kontemplation beschäftigen. Er und seine Tai hatten jetzt eine Aufgabe, und dies galt auch für die anderen, die sicher bald aus dem Süden kommen mussten. Einige waren gewiss schon in der Nähe. Auch die anderen Al-Arynaar wurden von dem Unbehagen herbeigerufen, das alle spüren mussten, manche stärker und manche schwächer.
Auf den letzten hundert Schritten waren Auums Sinne höchst wachsam und erlaubten ihm eine Wahrnehmung seiner unmittelbaren Umgebung, deren Schärfe sich ein Fremder nicht annähernd vorstellen konnte.
Wieder blieben sie stehen, um zu beten und ihre Gesichter zu bemalen. Wieder bespannten sie ihre kompakten
Bogen, die ihre Pfeile so schnell verschießen konnten. Wieder pirschten sie sich an ihr Ziel an, und ihre Konzentration wurde nur durch die beiden Fremden gestört, die sich außerhalb der Angriffszone befanden.
Die Tai ignorierten sie vorerst. Wenn sie ihre Aufgabe erfüllt hatten und der Tempel den Al-Arynaar zurückgegeben worden war, dann würden sie diese beiden verfolgen und stellen. Sie mussten sicher sein, dass alle Eindringlinge tot waren.
Auum stieg mühelos über eine aufgespannte Schlinge von recht guter
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