Die Legenden des Raben 02 - Elfenjagd
noch durch Nahrung oder Wasser. Die Ursache lag viel tiefer, und sie griff die Elfen in ihrem Wesenskern an. Es gab kein Entkommen.
Bei einer Besprechung an Bord der Calaianische Sonne hatten die verbliebenen zwölf Kapitäne sich abgesprochen, die Situation genau zu beobachten und abzuwarten, solange sie konnten. Irgendwann musste einer von ihnen nach Norden segeln und um Hilfe bitten. Jevin hatte sich angeboten, wollte jedoch erst fahren, wenn der Rabe wieder aufgetaucht war. Bis dahin wollten die Schiffe in einer Verteidigungsformation ankern, sich vor Angriffen durch Boote und Magie schützen und auf das Unausweichliche warten. Doch eines gar nicht so fernen Tages, wahrscheinlich sehr bald schon, würden auch die Schiffsbesatzungen sterben.
An einem wundervollen, sonnigen Morgen, als sich der Dunst gerade auflöste und weit im Süden die ersten Wolken über die Berge quollen, stand Jevin mit einem Magier an der Backbordreling und blickte nach Ysundeneth hinüber. Von seinem Standort aus war die Stadt nur ein winziger Fleck im üppigen Grün des Regenwaldes. Doch mit seinen scharfen Augen konnte er die stillen Straßen absuchen und die Katastrophe erkennen, der die Stadt zum Opfer gefallen war.
»Wie viele mögen inzwischen erkrankt sein?«, fragte er den Magier.
Vituul war ein junger, durchschnittlich großer Elf mit dunkelblauen Augen und einem klassisch geschnittenen, kantigen Gesicht. Sein langer schwarzer Pferdeschwanz reichte bis auf den Rücken seines hellbraunen Ledermantels hinab. Er hatte in der heimgesuchten Stadt keine Angehörigen, und gegen guten Lohn einen Fluchtweg geboten zu bekommen, war für ihn, als wäre ein Gebet erhört worden. Die Leute verlangten immer nachdrücklicher, dass die Elfenmagier eine Wunderheilung erfinden sollten. Dieses Wunder würde allerdings nicht geschehen.
»Das kann man kaum sagen«, erwiderte er. »Insgesamt ist vielleicht ein Drittel der Bevölkerung betroffen, doch da die Leute in großer Zahl sterben, wird auch für die bisher noch nicht Erkrankten das Überleben immer schwerer.«
»Aber da drüben leben hunderttausend Leute«, keuchte Jevin.
»Jetzt nicht mehr«, erwiderte Vituul. »Dreißigtausend liegen im Sterben.«
»Und weit und breit ist keine Heilung in Sicht.«
Was er bislang verdrängt hatte, traf ihn nun wie ein Schlag. Er hatte es mit eigenen Augen gesehen, doch erst als er Vituuls Zahlen hörte, bekam er Angst. Wenn diese
Zahlen stimmten, dann würden binnen fünfzig Tagen weniger als zwölftausend Einwohner in Ysundeneth leben, von denen viertausend im Sterben liegen würden. Da die Sterblichkeit vermutlich auf dem ganzen Kontinent ähnlich aussah, handelte es sich nicht nur um eine schreckliche Seuche, sondern um das Aussterben des ganzen Elfenvolks. Er schauderte.
»Wie kann es da eine Heilung geben?« Vituul sah ihn unbewegt an. »Niemand wird lange genug leben, um die nötigen Forschungen durchzuführen. Es gibt keinen Spruch, der den Verlauf der Krankheit auch nur verlangsamen könnte. Wir haben absolut keine Spur.«
»Was können wir tun?«, fragte Jevin hilflos. »Es muss doch irgendetwas geben.«
Vituul lächelte humorlos. »Warten, bis alles vorbei ist.«
»Und wenn es nicht vorbeigeht?«
»Beten, dass Yniss uns die Sünden vergibt, die wir begangen haben, denn wie es jetzt aussieht, müssen wir bald alle sterben.«
Jevin stützte sich auf die Reling. Er sollte irgendetwas tun. Alle Elfen sollten etwas tun. Soweit er wusste, hatte bisher noch niemand überlebt, der an der Seuche erkrankt war, aber andererseits war bei vielen noch nicht das letzte Stadium erreicht. Ein einziger Überlebender könnte ihnen etwas Hoffnung geben.
Jevins Angehörige lebten tief im Regenwald, und er zog es vor, nicht weiter über sie nachzudenken. So blieben wenigstens seine Hoffnungen am Leben.
»Warum hat es bisher noch keine Schiffsbesatzungen getroffen?«, fragte Jevin. »Ist das nicht seltsam? Könnte das nicht eine Spur sein?«
»Das könnte ein Hinweis sein. Bisher sind auch weder Fremde noch Elfen auf Reisen betroffen. Noch nicht.«
»Hat das nicht etwas zu bedeuten?«
»Wir sind immer noch Tuals Geschöpfe. Vielleicht ist der Fluch, weit entfernt vom Wald zu sein, auch ein Segen. Vielleicht ist Eure Sünde nicht so groß wie unsere.«
Jevin hatte eigentlich nicht nach theologischen Antworten gesucht, dieser Magier hatte aber offenbar nichts Besseres zu bieten.
»Versteht Ihr, worauf ich hinauswill?«
»Es gibt keinen
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