Die Legenden des Raben 02 - Elfenjagd
Kleiderschrank und Garderobe. Am Fußende des Betts lag auf einem Tisch das Beutestück. Yron sah es sofort und streckte einen Arm aus.
»Bleibt hier«, hauchte er. »Haltet die Tür auf.«
Erys nickte zustimmend, und Yron schlich weiter in den Raum hinein. Der dicke Teppich auf dem Steinboden verschluckte seine Schritte. Auf dem Tisch lag, eingerahmt von zwei hohen Kerzenständern, der Daumen des Yniss in einer Schale, die mit einem Seidentuch ausgeschlagen war.
Der Schweiß lief Yron in die Augen. Er wischte ihn weg und trocknete seine Handfläche am Mantel ab. Dann beugte er sich über den Tisch und streckte eine zitternde Hand aus. Er schluckte schwer und nahm den Daumen an sich, der kühl und angenehm in seiner Hand lag. Dankbar atmete er ein, schob das Stück in seine Tasche und drehte sich lächelnd zu Erys um. Als er das Gesicht des Magiers sah, erstarrte er vor Schreck.
Erys blickte rechts an Yron vorbei. Der Hauptmann drehte den Kopf, so weit er konnte, und schielte aus dem Augenwinkel. Die Vorhänge des Himmelbetts bewegten sich. Ein langes, schlankes Bein erschien, dann folgte der restliche Körper, bis eine nackte Frau neben dem Bett stand. Sie machte zwei anmutige Schritte hin zum abgeteilten Bereich, und dann, als spüre sie die Augen der Eindringlinge auf sich ruhen, hielt sie inne und drehte sich mit einer fließenden Bewegung zu ihnen um.
»Oh, verdammt«, keuchte Yron. Blitzschnell setzte er sich in Bewegung.
Instinktiv bedeckte sie mit Händen und Armen ihre Blöße, holte Luft und wollte offenbar um Hilfe schreien. Yrons Schlag traf ihr Kinn, sie taumelte zurück und sackte benommen auf den Boden. Ihr Kopf schlug hart auf den
Teppich, sie japste noch einmal vor Schmerzen und blieb reglos liegen.
Hinter den Vorhängen, die sich schon wieder bewegten, war eine benommene Stimme zu hören. Dystrans Kopf erschien. Er sah die Frau auf dem Boden liegen, und er sah Yron, der dicht vor der Frau und sehr nahe bei ihm stand.
»Oh, nein«, sagte Yron.
»Was, zum …«
Wieder schlug Yron zu und traf Dystrans Schläfe. Der Herr vom Berge zog grunzend den Kopf ein, blieb aber bei Bewusstsein.
»Erys, kommt her. Er muss tief schlafen.«
Wieder zog Dystran die Vorhänge zur Seite.
»Wachen!«, konnte er noch brüllen, ehe Yron ihm eine Hand auf den Mund presste.
Erys wirkte den Spruch im Laufen, die Protektoren waren nur wenige Schritte hinter ihm. Eine Berührung des Magiers, und Dystran hörte auf, sich zu wehren, und sackte zusammen. Yron legte ihn sachte hin und wandte sich an die beiden maskierten Krieger, die mit erhobenen Äxten hinter ihm standen.
»Er ist nicht verletzt. Er schläft nur. Bitte.«
»Die Zeit ist knapp«, sagte einer. »Lauft.«
»Und wie«, sagte Yron. »Erys.«
Yron rannte aus dem Zimmer, Erys folgte ihm auf dem Fuße. Sie eilten die Treppen hinunter.
»Erys, in welche Richtung müssen wir gehen, wenn wir unten sind?«
»Dystran hat einen Impuls ausgesandt, das Kolleg erwacht«, sagte Erys.
»Sagt mir nicht, wie schlimm es ist. Sagt mir, wie wir hinauskommen.«
»Durch den Haupteingang, nach rechts zu den langen Räumen, dann weiter zum Westtor.«
Yron nickte. Der Vorschlag klang vernünftig, denn im Künstlerviertel der Stadt konnten sie sich leichter verstecken als an jedem anderen Ort. Er sprang die letzten Stufen hinunter, huschte an den Protektoren im Vorraum vorbei und eilte weiter, folgte der Krümmung des Ganges, riss den Vorhang zur Seite und rannte zum Haupteingang des Turms.
Als er über den Marmorboden eilte, öffneten zwei Magier die Tür von draußen und traten ein. Yron rannte sie über den Haufen, während sie noch unentschlossen zögerten. Einen rammte er hart mit der Schulter und schleuderte ihn gegen die Wand, dem zweiten stieß Erys die ausgestreckte Hand ins Gesicht.
Als sie aus der Tür in die dunkle Nacht hinausstürmten, waren überall auf dem Gelände des Kollegs Fackeln und Laternen von Leuten zu sehen, die zum Turm gerannt kamen. Sie hielten sich rechts und eilten am Turm entlang. Erys zerrte Yron noch einmal nach rechts, und sie liefen am ersten langen Raum vorbei. Erys hatte jetzt die Führung übernommen. Hinter einem Vortragssaal bogen sie erneut ab, huschten an der Küche vorbei in ein Gewirr schmaler Durchgänge hinter den Mannschaftsunterkünften und Ställen. Unter einer Steintreppe, die zu einem Heuboden hinaufführte, blieben sie stehen, um Luft zu schnappen.
Ringsum waren in der Dunkelheit die Rufe der Verfolger zu hören.
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