Die Legenden des Raben 03 - Schattenherz
Zerstörerisches zu wirken. Und jetzt macht Platz, ich muss zu den Wällen. Ich habe zu tun.«
Einer seiner Leibwächter rannte zum Kreis der Türme zurück, um Dystrans Anweisungen weiterzugeben. Zwei weitere stiegen auf die Pferde und eilten im Galopp zum Osttor des Kollegs. Die übrigen drei nahmen Dystran in die Mitte, als er sein Tier mit den Hacken antrieb und in die Stadt aufbrach.
Er war lange nicht geritten. Es war leicht, sich vorzustellen, der Krieg verlaufe nach Plan, solange er sicher und abgeschirmt im Kolleg saß. Sobald die Tore geschlossen waren, konnte man mühelos die Wirklichkeit verdrängen. Doch hier draußen in den Straßen war sein Volk alles andere als gelassen. Geschäfte gingen bankrott, die Menschen begannen allmählich zu hungern, während die Rationen knapp wurden. Es war Frühling, und auf den Feldern der Bauernhöfe, die Lebensmittel nach Xetesk lieferten, hätten Korn und Früchte wachsen sollen. Doch die meisten Höfe waren verlassen und verwildert – oder, noch schlimmer, sie belieferten die Feinde.
Dystran musste seinem Volk begreiflich machen, dass sie nicht so weit gegangen waren, um jetzt noch umzukehren und sich der alten Ordnung zu unterwerfen, die Xetesk entmachten wollte. Die ihn entmachten wollte. Er musste sein Volk hinter sich wissen, und es musste an den Ruhm von Xetesk glauben. In den ersten Tagen der Belagerung war die
Unterstützung unerschütterlich geblieben. Seine Versuche, alle Bürger in die Anstrengungen einzubeziehen, damit sie das Gefühl bekamen, um ihr eigenes Überleben zu kämpfen, hatten zunächst funktioniert. Von den Sanitätern über die Wasserträger und die Köche in den Suppenküchen bis zu den Waffenschmieden hatte jeder seine Aufgabe übernomen. Ein außerordentlicher Gemeinschaftsgeist war entstanden.
Wie schnell doch diese Unterstützung schwand. Kaum vierzig Tage Kampf, und schon verloren sie ihren Glauben. Die Augen, die sie auf ihn richteten, blickten ängstlich oder wütend oder beides zugleich. Er konnte ihre Sorgen verstehen. Keiner von ihnen durfte die Kämpfe beobachten, wenn er nicht als Hilfskraft eingeteilt war, und dies bedeutete, dass die meisten nichts als Gerüchte zu hören bekamen, die Tag für Tag die Runde machten. Die meisten waren übertrieben, einige musste man beinahe als Lügen bezeichnen. Dagegen konnte Dystran nicht viel tun, denn da es keine überzeugenden Anzeichen eines Sieges gab, sahen die Menschen das Verhängnis nahen, und darüber konnte man bei einigen Gläschen vortrefflich jammern.
Es war ein so schwerer Weg gewesen. Er hatte versucht, den Glauben seines Volks zu erhalten, ohne offen sagen zu können, warum sie solche Qualen erdulden mussten. Ein Krieg, den sie nicht sehen durften, der sie aber trotzdem in den Abgrund reißen konnte, falls sich das Los gegen sie wandte.
Wie konnte Dystran ihnen erklären, dass sie nur noch ein paar Tage warten mussten? Wenn er es tat, würden es auch seine Feinde erfahren, und das durfte nicht sein.
»Haltet nur durch«, flüsterte er, als er an den Menschen vorbeikam, die sich verzweifelt an ihn wandten. »Haltet durch.«
Er ritt durch die Militärstellungen am Osttor. Die Befestigungen sahen an allen vier Eingängen der Stadt ähnlich aus. Wachtposten winkten ihn durch und wiesen ihm den Weg zum mächtigen, verschlossenen Tor. Es war siebzig Fuß hoch, mit Eisen beschlagen und saß in einem hundert Fuß hohen Steinbogen, der bis zur Spitze des großen Turms am Osttor reichte. Dort oben im Turm gab es einen Bogengang, von dem aus die Generäle die Schlacht leiten konnten, die eine halbe Meile entfernt auf offenem Gelände stattfand. Dort oben waren sie sicher und standen hoch über zahlreichen Pechnasen und verstärkten Wällen.
Zu beiden Seiten des Turms erstreckten sich, eine Meile weit oder noch länger, die Mauern der Stadt, auf denen in regelmäßigen Abständen weitere, mit Bogenschützen und Wächtern besetzte Türme standen. Im Augenblick war es dort ruhig, weil ein großer Teil der Streitkräfte auf den Schlachtfeldern zusammengezogen war. Doch auch die Mauern selbst waren schon abschreckend genug. Tief in der Erde verankert, von innen weiter verstärkt und ein wenig nach außen geneigt, ragten sie siebzig Fuß auf, ebenso hoch wie die Tore. Sie waren noch nie bezwungen worden, und Dystran dachte beruhigt daran, welche Kräfte die Feinde aufbieten müssten, um die Sicherheit der Stadt ernstlich zu gefährden.
Doch wie in allen eingefriedeten Siedlungen
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