Die Leibwächterin (German Edition)
und Erdgas. Sie trug ihre Ansichten mit der typischen Selbstsicherheit der Politikerin vor, aber da ich sie kannte, hörte ich ihr trotzdem zu.
«Finnland sollte möglichst unabhängig von der Importenergie werden, und das bedeutet, dass wir den Energieverbrauch drosseln müssen.»
Der Moderator bohrte nach, brachte die internationale Wettbewerbsfähigkeit und die drohende Rezession zur Sprache, doch da piepte mein Handy. Eine SMS von meiner Nachbarin Elli Voutilainen, die mir mitteilte, sie glaube, Juri Trankow auf der Koskelantie gesehen zu haben, sei sich aber nicht hundertprozentig sicher.
Mir lief es kalt den Rücken herunter. Die Russengangster würden doch nicht etwa meine Mitbewohnerinnen bedrohen? Da sie meine Adresse herausgefunden hatten, wussten sie natürlich auch, dass ich nicht allein lebte. Die Sizilianer schickten ihren Gegnern Pferdeköpfe, um sie einzuschüchtern; bei mir genügte ein gemalter Luchs.
Ich stellte die halbleere Bierflasche in den Kühlschrank, versteckte den Safe unter einem Holzstapel in der Sauna und kletterte auf einen nahegelegenen Fels, von wo ich das Meer sehen konnte. Es nieselte, das Wasser war spiegelglatt und grau wie ein Wolfspelz. Eine Schar Gänse flog laut rufend über mich hinweg, ich zählte dreißig Vögel. Der Herbstzug hatte begonnen, und ich hatte ein Fernglas im Sommerhaus, sodass ich mich gegebenenfalls als Ornithologin ausgeben konnte. Oder als Pilzsammlerin. Mit Pilzen kannte ich mich aus, dank Onkel Jari. Er hatte sich alle Mühe gegeben, mir die wichtigsten Überlebenskünste beizubringen.
Als ich in die zweite Klasse ging, war unser Zusammenleben ernsthaft gefährdet. Unsere Lehrerin veranstaltete donnerstags nach Schulschluss einen Turnkreis, an dem ich nicht teilnehmen konnte, weil so spät kein Bus mehr fuhr. Die Lehrerin, die nur einige Kilometer von der Schule entfernt wohnte, bot mir an, mich nach dem Turnen nach Hause zu fahren. Wahrscheinlich hatte sie Mitleid mit mir, dem mutterlosen Mädchen, das oft zwei verschiedenfarbige Strümpfe trug und dessen lose Knöpfe grundsätzlich mit schwarzem Garn angenäht wurden, ganz gleich, welche Farbe der Knopf oder das Kleidungsstück hatte. So blieb ich denn eines Donnerstags zum Turnen. Wir übten Radschlagen und Tauklettern, und ich war bei beidem gut. Anschließend fuhr die Lehrerin mich nach Hause und erwartete ganz offensichtlich, dass ich sie hereinbat. Ich hätte ihr gern Frida vorgestellt, doch ich ahnte, dass Onkel Jari damit nicht einverstanden gewesen wäre. Also bedankte ich mich fürs Bringen und erklärte der Lehrerin, wo sie wenden konnte. Dann lief ich ins Haus. Sobald ich die Tür aufmachte, rief ich nach Frida.
Doch hinter der Tür stand Onkel Jari. So wütend hatte ich ihn noch nie gesehen. Sein Gesicht war rot wie Preiselbeeren, und sein Schnurrbart zitterte.
«Was soll das bedeuten? Was hatte deine Lehrerin bei uns zu suchen?»
«Ich habe dir doch von dem Turnkreis erzählt. Sie hat mich nach Hause gefahren, ich dachte, du wärst noch bei Karttunen auf der Baustelle …» Ich war den Tränen nahe, mein Onkel durfte mir nicht böse sein.
«Uns ist das Bauholz ausgegangen, deshalb bin ich früher nach Hause gekommen. Zum Glück, so hatte ich gerade noch Zeit, Frida reinzuholen, als ich das Auto kommen hörte. Begreifst du nicht, dass der Luchs unser Geheimnis ist? Du darfst keinem davon erzählen, sonst holen sie ihn ab, sperren ihn in den Zoo oder bringen ihn gar um!»
Nun weinte ich. Natürlich wollte ich Frida nicht verlieren.
«Ich geh nicht mehr zu dem Turnkreis», beteuerte ich. Onkel Jari war mir nicht länger böse, erinnerte mich im Lauf des Abends aber noch mehrmals daran, dass Frida unser Geheimnis sei.
Als die Lehrerin am nächsten Donnerstag fragte, ob ich zum Turnen bliebe, sagte ich, ich könne nicht.
«Warum denn nicht, mein Kind? Ich fahre dich danach gern nach Hause.»
«Es geht eben nicht. Das ist ein Geheimnis.»
«Was ist ein Geheimnis?» Die Lehrerin wirkte plötzlich besorgt. «Mir kannst du alle Geheimnisse erzählen.»
«Nein! Das ist ein Geheimnis zwischen Onkel Jari und mir.»
Die Lehrerin schrie auf, dann schlug sie die Hand vor den Mund. «Ach, Kindchen, ein Geheimnis zwischen euch beiden? Darüber müssen wir erst recht sprechen. Wann warst du zuletzt bei der Schulschwester? Du armes Kind. Was soll ich denn jetzt tun?»
Ich wunderte mich über die Reaktion der Lehrerin. Obendrein schien sie zu ahnen, was das Geheimnis war, denn sie
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