Die Leibwächterin (German Edition)
dazubitten.» Die Schulschwester presste ihren Wollhandschuh auf die Oberlippe, die von meinem Tritt geschwollen war. Die Lehrerin guckte mich merkwürdig an, als sie mich ins Klassenzimmer begleitete. Es gab Seemannstopf zum Mittagessen; ich durfte mir eine Riesenportion nehmen, weil die anderen schon gegessen hatten. Meine Freundinnen erkundigten sich neugierig, was die Schulschwester von mir gewollt hatte, aber ich verriet es ihnen nicht. Auch Onkel Jari erzählte ich nichts von dem Vorfall, denn ich schämte mich für das Benehmen der Schwester. Mein Onkel hatte mir erklärt, die Stelle zwischen den Beinen gehöre mir ganz allein, niemand dürfe sie anfassen. Er hatte keine Gründe genannt, aber ich hatte ihm trotzdem geglaubt. Allerdings war ich stolz darauf, dass ich unser Geheimnis gewahrt hatte, obwohl die Schulschwester so gemein gewesen war. Es geschah ihr ganz recht, dass sie eine dicke Lippe hatte, sie hätte mir eben nicht wehtun sollen. Aber was war das Erbgut, von dem sie gesprochen hatte? Ein Erbe bekam man doch erst, wenn jemand gestorben war.
Im Lauf des Wochenendes vergaß ich die ganze Geschichte. Wir saßen an beiden Tagen am Eisloch und angelten. Onkel Jari machte Barsch im Brotteig und Fischsuppe, und Frida spielte mit einem lebenden Barsch, den er ihr schenkte. Erst am Montag fiel mir wieder ein, dass die Schulschwester vom Arzt gesprochen hatte. Ich streichelte Frida, bevor ich zur Haltestelle ging, und versprach ihr, sie mit keinem Sterbenswörtchen zu verraten, ganz egal, was der Arzt mit mir anstellte. Doch schon während der Busfahrt wurde mir mulmig: Im letzten Donald-Duck-Heft war ein Wahrheitsserum vorgekommen, das einem in den Arm gespritzt wurde. Wer so eine Spritze bekam, konnte nur noch die Wahrheit sagen. Ich beschloss, mir auf keinen Fall etwas in den Arm spritzen zu lassen.
Wir hatten Religion, Mathematik und zwei Stunden Handarbeit. In der Religionsstunde ging es um die Söhne des Zebedäus. Die kamen auch in einem von Onkel Jaris Lieblingswitzen vor, den er jedes Mal erzählte, wenn er ein paar Flaschen Bier getrunken hatte: Wie heißt der Vater der Söhne des Zebedäus? Ob die Lehrerin die Antwort wusste? Und was erzählte sie da von einem Erbe, hatten auch die Söhne des Zebedäus ein Erbgut? In der Pause bauten wir eine Schneeburg. Es herrschte Tauwetter, und der Schnee formte sich wie von selbst zu Kugeln und Wällen. In der Mathematikstunde war Malnehmen an der Reihe. Das fiel mir leicht, denn ich übte es manchmal mit Onkel Jaris Streichhölzern und hatte die Multiplikationstabelle im Nu gelernt. In der Handarbeitsstunde bestickte ich ein Tuch. Es sollte eine Unterlage für Fridas Fressnapf werden, ich hatte mir dafür luchsbraunen Waffelstoff ausgesucht, den ich mit gelbem und dunkelbraunem Garn bestickte. Diese Farben hatte außer mir niemand gewählt, die anderen fanden Braun hässlich.
Erst gegen Ende der zweiten Handarbeitsstunde dachte ich wieder an den Arzt. Ganz egal, was für Metalldinger er in mich steckte, ich würde kein Wort sagen. Zur Vorbereitung stach ich mir mit der Sticknadel in den Handrücken. Ich gab keinen Mucks von mir, ich konnte Schmerzen ertragen. Dem Arzt würde ich es zeigen.
Im Auto stellte die Lehrerin mir seltsame Fragen, sie wollte wissen, wo Onkel Jari und ich schliefen und ob wir zusammen in die Sauna gingen. Gab Onkel Jari mir Küsschen? Ich erzählte, dass ich einen Gutenachtkuss bekam, ein Bett für mich allein hatte und dass wir natürlich gemeinsam in die Sauna gingen, um keine Wärme zu verschwenden.
«Küsst du Onkel Jari manchmal woandershin als auf die Wange?»
Ich dachte intensiv nach und erinnerte mich, dass ich ihm einmal die Hand geküsst hatte, als wir König spielten. Das war schon mehrere Jahre her, aber die Lehrerin fand das Spiel riesig interessant und fragte mich aus, was alles dazugehörte. Das Ganze hatte damit angefangen, dass ich eine wunderschöne neue Decke bekommen hatte, die meiner Meinung nach aussah wie ein Königsmantel. Ich hatte Onkel Jari eine Krone aus Pappe gebastelt, und er hatte eine Weile mitgespielt, doch dann war Onkel Hakkarainen auf seinem Moped gekommen, und damit war das Spiel zu Ende gewesen. Aber Königen küsste man die Hand, jedenfalls im Märchen.
«Denk daran, dass du dem Arzt ehrlich antworten musst. Ein Arzt ist der Herr über alle Krankheiten», sagte die Lehrerin, als wir ankamen. Das Gesundheitszentrum war ein flaches weißes Gebäude, ganz in der Nähe ragte ein riesiger
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