Die Leiche am Eisernen Steg (German Edition)
nicht davon abhielt, ihrerseits reichlich zu bestellen.
Herr Schweitzer schätzte mal, das befreundete Pärchen würde nach diesem Abend kein befreundetes Pärchen mehr sein. Inzwischen stand ihnen nämlich das blanke Entsetzen im Gesicht. Er konnte es ihnen nicht verübeln. Theoretisch war es für sie ein verlorener Abend. Praktisch wohl auch. Wiederholt hatte Herr Schweitzer während seiner nun fast fünfzig Lenze die Erfahrung gemacht, daß sich einige Frauen ins Paralleluniversum verabschiedeten, sobald sie geworfen hatten. Vorher hatten sie noch lautstark getönt, sie hätten doch nicht studiert, um Bälger großzuziehen. Ein halbes Jahr Mutterschaftsurlaub, wenn’s hochkommt. Und dann geht’s wieder auf die Karriereleiter, so der Tenor vieler. Davor. Danach war die Realität eine andere. Aus der Simplizität des in der Evolutionsgeschichte unzählige Male und ohne großes Aufheben absolvierten Geburtenvorgangs ward über Nacht eine Jahrtausendsensation. Aus dem kurzen Mutterschaftsurlaub ein Dauerzustand. Das schlichte Leben der Kinderfreuden ließ fast sämtliche Beziehungen zu bedauernswerten kinderlosen Paaren und Freunden den Bach runtergehen. Nicht selten machten sie sich wie diese unsägliche Kotfrau zum Gespött all jener, die Vermehrung als durchaus üblich und normal betrachteten. Aber vielleicht war diese Art von Fixierung notwendig, überlegte Herr Schweitzer, um nicht über ihr ansonsten schmuckloses Dasein nachzugrübeln. Für ihn, Herrn Schweitzer, waren Kinder nicht unbedingt das Sahnhäubchen vom Leben. Man konnte welche haben, schön und gut. Aber wenn sie zum einzigen Lebensinhalt wurden, dann gute Nacht.
Maria und er hatten die Schnauze von Oliver voll. Fluchtartig verließen sie den Tisch der analen Ausscheidungen. Sehr zum Neid des oliverlosen Pärchens, wie Herr Schweitzer an ihren Augen ablesen konnte.
„Puuh, kann das Leben grausam sein“, sagte Maria, als sie in den leichten Nieselregen eintauchten, der sich wie ein weißes Seidentuch über Sachsenhausen gelegt hatte. „Wollen wir noch ins Weinfaß?“
Natürlich wollte Herr Schweitzer. Solange es etwas gab, was ihn vom morgigen Horrortrip ablenkte, sollte es auch genutzt werden.
Als Pushkar Singh vor nunmehr zehn Jahren Familie und Dorf im kriegsgebeutelten Kaschmir verließ, um im Goldenen Westen erst illegal als Küchenhilfe, dann legal als Taxifahrer sein Glück zu versuchen, hatte er schon so einiges hinter sich, von dem er dachte, es reiche für mehrere Leben. Bombenterror, staatliche Willkür, Flucht, die menschenunwürdige Behausung im Frankfurter Bahnhofsviertel, wo sie sich zu zehnt zwanzig Quadratmeter mit Kakerlaken und Ratten teilten. Und ein Raubüberfall auf ihn als Taxifahrer, den er mit einem Bauchschuß nur knapp überlebt hatte. Das alles war nichts im Vergleich zu dem, was ihm heute passierte. Eigentlich hätte er schon Feierabend gehabt, doch vor zwei Stunden hatte der Tagfahrer seine Schicht abgesagt, und Pushkar beschlossen, noch zwei, drei Stündchen dranzuhängen. Das zusätzliche Geld konnte er gut gebrauchen, ging’s doch nächsten Monat auf Heimaturlaub. Und ein paar Geschenke mehr für seine Großfamilie kämen seinem Ansehen als fleißigen und verantwortungsvollen Sikh sehr zupaß.
Der Mittlere Hasenpfad, den er ob der höflichen und kultivierten Menschen, die in dieser Gegend wohnten, sehr schätzte, sollte seine letzte Fahrt für heute sein, so langsam fielen ihm nämlich die Augen zu. Das Bett vor Augen steuerte er die angegebene Adresse an. Schon von weitem nahm er konturenhaft eine Gestalt mit großem Gepäck wahr. Dieser Anblick war ihm höchst willkommen, denn die Chance, daß es zum Flughafen ging, war groß. Das brachte immerhin über dreißig Euro ein. Natürlich kam auch der Bahnhof in Betracht. Aber was soll’s, sagte sich Pushkar, mein Geld habe ich heute schon verdient. Eine Tour war bis nach Friedberg gegangen.
Erst schrieb er es seiner Übermüdung zu, dann einer Fata Morgana, und als er den Benz zum Stehen brachte, hätte er am liebsten wieder Gas gegeben. Aber damit hätte er sich bloß Ärger mit der Zentrale eingehandelt. Und den konnte und wollte er sich so kurz vorm Urlaub nicht aufhalsen.
Aufgeregt hatte Herr Schweitzer am Straßenrand gestanden und wild mit den Armen gefuchtelt. Wie schon ein paar Tage zuvor, als er sich Laura präsentiert hatte, stand er in voller Montur, inklusive Tropenhelm, vor seinem prall gefüllten Rucksack.
Ganz geschwind ging Pushkar die
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