Die Leiche am Fluß
der enttäuschte Sergeant ihm auf dem Heimweg einen Zettel durch. Das Labor hatte bestätigt, daß es sich bei den Spuren auf dem Fahrrad um das Blut von McClure handelte. Außerdem legte er ihm noch einen Zeitungsausschnitt aus der Oxford Times der Vorwoche bei, den ihm ein Kollege aus St. Aldate’s gegeben hatte:
GELEGENHEIT MACHT DIEBE
Der gutgemeinte Plan, der Bevölkerung kostenlose Leihräder anzubieten, mußte vom Gemeinderat Billingdon jetzt aufgegeben werden.
Die grünlackierten und von jugendlichen Straffälligen während ihrer Arbeitsstunden für die Gemeinde instandgesetzten Räder wurden in eigens angeschafften Fahrradständern vor der Kirche aufgestellt, wo sie von den Dorfbewohnern ausgeliehen und nach Gebrauch wieder zurückgebracht werden sollten.
Innerhalb von sechsunddreißig Stunden waren sämtliche zum Preis von 1100 Pfund erworbenen zwölf Fahrräder verschwunden.
Mrs. Jean Ashton, Vorsitzende des Gemeinderates, verteidigte die Initiative. «Die Räder stehen bestimmt noch irgendwo herum», erklärte sie.
Constable Watson von der Polizeidirektion Thames Valley formulierte denselben Sachverhalt so: «Die meisten stehen bestimmt noch irgendwo herum, in Oxford oder Banbury, knallrot umgespritzt.»
Auch Ashley Davies hatte an diesem Samstagabend mehrmals erfolglos eine Nummer in Oxford angerufen und war ähnlich enttäuscht wie Sergeant Lewis. Ellie hatte ihm gesagt, daß sie den ganzen Tag unterwegs sein würde, er könne aber versuchen, sie abends anzurufen. Was er ihr zu sagen hatte, war nicht eilig, aber sie sollte doch merken, wie tüchtig er gewesen war.
In dem feinen, neu eröffneten Standesamt in der New Road hatte man ihm höflich und kompetent Auskunft gegeben. In seinem Fall würde man zu einem schriftlichen Aufgebot raten. Als Termin für die Trauung könnte man Samstag, den 15. Oktober, ins Auge fassen, damit blieb reichlich Zeit, das Aufgebot in Bedford und in Oxford zu bestellen. Er hatte mit dem Standesbeamten verabredet, ihm den Termin am Montag noch einmal telefonisch zu bestätigen.
Ein bißchen Familie bei der standesamtlichen Trauung hätte sich ganz gut gemacht, aber seine Eltern hatten sich von «dieser Nutte» nachdrücklich distanziert, und Ellies Stiefvater konnten sie auf keinen Fall einladen — nicht nur, weil er keine Nachsendeadresse hinterlassen hatte, sondern weil Ellie schon an die Decke ging, wenn sie nur seinen Namen hörte.
So blieb denn als bisher einziger Hochzeitsgast nur Ellies Mum, aber das konnte sich ja noch ändern, und nach dem Gesetz (erstaunlicherweise war Ellie da bestens informiert) waren ohnehin nur zwei Trauzeugen erforderlich.
50
Nichts in der Natur ist so wandelbar wie der Kopfputz einer Dame; ich sah ihn schon um dreißig Grad steigen und fallen.
(Joseph Addison, The Spectator)
In der Old Parsonage Bar, in der man (wie wir wissen) auch essen kann, hatte er sie nicht gesichtet. Er hatte dort nur zwei Damen ohne Begleitung ausgemacht, eine Blondine und eine Brünette. Erstere, makellos frisiert und in einem weißen Kostüm, hätte überall Aufsehen erregt. Letztere, mit modischem Kurzhaarschnitt und in einem oxfordblauen Wickelkleid, wirkte auch nicht unattraktiv, aber Morse konnte ihr Gesicht nicht sehen und behielt sich deshalb ein Urteil vor.
Da es an der Bar kein Bier vom Faß gab, bestellte er ein Glas Bordeaux, blieb ein paar Minuten so stehen, daß er den Eingang im Auge hatte, und setzte sich dann — noch immer mit Blick auf den Eingang — auf einen der grünen Barhocker.
Aber Miss Smith ließ auf sich warten.
«Sind Sie allein?» gurrte es dicht hinter ihm. Morse fuhr herum. Die Brünette erklomm nicht sehr elegant den Hocker neben ihm.
«Im Augenblick ja. Kann ich Ihnen...»
Er hatte ihr Haar bewundert, dunkelbraunes Haar, in dem kastanienfarbene Glanzlichter schimmerten, aber nicht ihre Stimme verschlug ihm jetzt die Sprache, sondern ein Blick in ihre Augen. Schlammgrüne Augen von der Farbe des Wassers im Oxford-Kanal.
«Das darf nicht wahr sein!»
«Sie haben mich echt nicht erkannt, was? Ich warte schon eine halbe Ewigkeit. Gut, daß ich nicht schüchtern bin.»
«Was wollen Sie trinken?»
«Ich hätte Lust auf Schampus.»
«Hm...» Morse war noch beim Abschnitt «Offene Weine» auf der Getränkekarte.
«Reicht’s nicht mehr für ‘ne Flasche?»
Morse drehte die Karte um und registrierte erleichtert, daß die meisten Schaumweine auch in halben Flaschen zu haben waren. Er deutete auf den billigsten
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