Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
Gesicht kam ihm merkwürdig bekannt vor, aber schließlich hatte er sie auch von der ersten Sekunde an ständig angestarrt.
«Miss Harrow.» Sie schien seine respektvolle Anrede zunächst als völlig selbstverständlich hinzunehmen, schüttelte dann aber kaum merkbar den Kopf, so als wäre sie sich ihrer Position doch nicht so sicher. Nach und nach kam Semjon zu der Ansicht, dass, selbst wenn sie jetzt eine Dienstbotin war, sie doch sicher nicht von Geburt an zu dieser Schicht gehörte. «Oder auch nur Angelica, wenn Sie das vorziehen. Das ginge auch», erklärte sie mit beherrschter Stimme.
«Wie Sie wünschen.» Ein anderer Mann hätte sich nach der Nennung ihres Vornamens eventuell weitere Freiheiten herausgenommen, aber Semjon blieb voller Respekt – und wurde mit einem Mal sehr neugierig. Sich um die teuren Mäntel und Pelze auf einem großen Ball zu kümmern, würde man wohl nur einer sehr vertrauenswürdigen, ergebenen Hausangestellten erlauben. Aber andererseits hatte sie so gar nichts Serviles an sich.
Ihr Stolz und ihre Herkunft zeigten sich deutlich in der Art, wie sie sich gab. Nicht überheblich, aber voller Selbstbewusstsein. Und sie war so wunderschön, dass sie heute Abend alle anderen Frauen ausstechen konnte. Das Mädchen gehörte auf die Tanzfläche, wo ein hingebungsvoller Tanzpartner nach dem anderen sie in die Arme schließen würde – und nicht hinter einen Vorhang am Ende eines Flurs. Semjon fragte sich, wie um alles in der Welt er wohl länger mit ihr sprechen könnte, ohne von einem zurückkehrenden Diener oder sonst wem gestört zu werden.
Aber dies war anscheinend nicht der richtige Zeitpunkt, denn sie schaute ihn auf eine Art und Weise an, die nicht gerade animierend wirkte, jetzt noch weitere Worte an sie zu richten. Ihr fester Blick machte ihn jedenfalls durchaus nervös.
«Ach ja, mein Mantel. Hier, bitte», sagte er und hielt ihr das Kleidungsstück entgegen. «Wie bereits erwähnt, es ist im Ballsaal ziemlich warm.»
Sie kam etwas näher und neigte ihren Kopf zu einem würdevollen Nicken, das ihm nahelegte, sich nun zu entfernen. Dann nahm sie ihm – peinlich bemüht, es zu keiner direkten Berührung kommen zu lassen – den Mantel ab. Die junge Frau war es zweifellos gewöhnt, auf derartigen Festivitäten von herumwandernden Männern angesprochen oder sogar in irgendeiner Weise berührt zu werden. Und aller Wahrscheinlichkeit nach hasste sie es inständig.
Sein Blick folgte ihr, als sie in das Zimmer zurücktrat, und er bemerkte gleichzeitig etwas bestürzt, dass keinerlei andere Kleidungsstücke in nüchternem, männlichem Schwarz zu sehen waren.
Alles andere war bestickt, mit Pailletten oder Pelz besetzt und gemustert – also ausschließlich Kleidungsstücke von Damen. Sie musste ihn für einen Idioten halten, dass er überhaupt hergekommen war.
Semjon gelang es noch, ihr ein Lächeln zuzuwerfen, bevor er sich schließlich mit einer sehr knappen Verbeugung abwandte, um in den Ballsaal zu gehen. Doch plötzlich ertönte noch einmal ihre sanfte Stimme.
«Sir …»
«Ja?»
«Ich kenne Ihren Namen gar nicht.» Ihre Lippen waren fest zusammengepresst, fast so, als müsste sie sich große Mühe geben, nicht in ein Lachen auszubrechen. «Wenn andere Männer es sich in den Kopf setzen sollten, das zu tun, was Sie soeben getan haben, könnte es schließlich durchaus sein, dass ich Ihren Mantel mit dem eines anderen Herrn verwechsle.» Sie griff nach einem kleinen Stift und einem Stück Papier, legte es auf ein Buch, um eine feste Unterlage zu haben, und lächelte ihn dann erwartungsvoll an.
Semjon nickte, als wäre die Angelegenheit von allergrößter Wichtigkeit. «Ich verstehe. Wenn Sie möchten, kann ich den Mantel auch dort abgeben, wo er eigentlich hingehört.»
Sie schüttelte den Kopf und schenkte ihm ein leichtes Lächeln. «Nein, das ist nicht nötig. Aber Ihren Namen hätte ich trotzdem gern gewusst.»
«Semjon Taruskin», erwiderte er. «Zu Ihren Diensten.»
Sie notierte den Namen ganz so, als wüsste sie, wie man ihn buchstabiert. Aber vielleicht wusste sie auch tatsächlich, wie man ihn schrieb. Und wieder nagte das vage Gefühl an ihm, diese Frau von irgendwoher zu kennen. Doch woher, das konnte er beim besten Willen nicht sagen.
Mit einer schnellen Geste steckte sie den Zettel in die Manteltasche. «Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei dem Ball, Sir», erklärte sie nüchtern und entließ ihn diesmal wirklich.
«Vielen Dank, das werde ich
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