Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
verkauft wurden, aber nach kurzem Nachdenken befand sie, dass es sich schließlich um ein Gebäude wie jedes andere auch handelte. Sie schaute hinauf auf die in Stein gemeißelten Figuren der vier Evangelisten und fragte sich dabei, ob sie wohl ebenso traurig aussah wie jene Statuen.
Als die Männer ihr Tun anscheinend beendet hatten, ging sie hinein und setzte sich auf eine der Kirchenbänke. Diese Bänke werden ja wohl hierbleiben, dachte sie bei sich.
Das Hauptschiff der Kirche war leer, wurde aber von den letzten Sonnenstrahlen des Tages erleuchtet. Schon einfach nur dort zu sitzen erfüllte sie mit Frieden – auch wenn es bewegende Erinnerungen an unschuldigere Tage mit sich brachte.
Auf einmal bemerkte Angelica eine Bewegung, die sie selbst durch den Schleier hindurch wahrnahm. Und noch ehe sie sich in Erinnerung rufen konnte, dass sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen durfte, drehte sie sich ruckartig um.
Da stand ein großer Mann mit einem freundlichen Lächeln, der einen langen schwarzen Mantel mit einer weißen Halsbinde trug. Sie konnte nicht sagen, ob es sich um einen einfachen Geistlichen oder einen Priester handelte. Irgendwie schien er keines von beidem zu sein. Aber da es sich um eine katholische Kirche handelte, entschied sie, dass es sich wohl doch um irgendeinen Priester handeln musste. Man sah sie nicht häufig, höchstens im Viertel der hugenottischen Seidenweber. Aber das befand sich in einiger Entfernung zu dieser Gegend.
Er neigte grüßend den Kopf und kam ein wenig näher. Angelica sah, dass er neben einem Beichtstuhl stand, und für einen kurzen Moment beneidete sie die Menschen seines Glaubens um ihre heiligen Riten von Beichte und Absolution.
Der Gedanke an die Lust, die ihr Stiefbruder für sie empfand, erfüllte die junge Frau mit großer Scham. Ganz im Gegensatz zu dem, was sie mit Semjon getan hatte. Ihr Liebesspiel hatte etwas Erweckendes und Wunderbares gehabt, und sie hatte das Gefühl, als würden die Verletzungen ihrer Seele dadurch langsam heilen. Ganz gewiss hatte er sie zumindest so beschützt, wie es vor ihm noch kein anderer Mann getan hatte.
Würde sie ihre Gefühle beichten können, würde Victor sie vielleicht nie wieder heimsuchen, dachte sie und schaute hinauf in das Licht des leeren Kirchenschiffs.
Doch sie versuchte sofort, die seltsame Idee wieder aus ihrem Kopf zu verbannen. Das Ritual der Beichte war immerhin ein heiliges Sakrament – und sie konnte sich weder an die Worte erinnern, die man dabei zu sprechen hatte, noch was sie eigentlich bedeuteten.
Plötzlich eilte eine andere Frau, deren Antlitz von einem Hut verborgen war, den Altargang hinunter und betrat den Beichtstuhl. Der Priester – er musste einfach ein Priester sein – schlüpfte von der anderen Seite ebenfalls hinein.
Angelica saß wie erstarrt da, konnte aber nur ein unverständliches Murmeln hören.
Ich werde beichten. Ich muss es tun … auch wenn es keine Sünde war, die ich selbst begangen habe , dachte sie, und der Gedanke hallte in ihrer Seele wider.
Als die Frau den Beichtstuhl verließ, atmete sie schwer, aber voller Erleichterung, Gehör gefunden zu haben, in ein zerknülltes Taschentuch. Sie blieb nicht stehen, um ein Bußgebet zu sprechen, und trug auch keinen Rosenkranz bei sich. Aber Angelica bemerkte nichts von alledem. Wie unter einem Zauber stehend, erhob sie sich von der Kirchenbank und betrat den Beichtstuhl. Im Inneren konnte sie auf der anderen Seite eines geflochtenen Metallgitters den Schatten des großen Mannes erkennen.
Die Worte, die er murmelte, sagten ihr nichts, und sie antwortete ihm in einer Stimme, die so tief und hastig war, dass sie sich selbst kaum verstand.
Seine Stimme war ebenso freundlich, wie sein entferntes Lächeln gewesen war. Wie ein Sturzbach floss Angelicas Geschichte aus ihrem Mund. Dabei war es ihr völlig gleichgültig, ob er sie überhaupt verstand oder ob ihr hinterher Absolution erteilen würde.
Als sie fertig war, presste sie ihre Hand auf das geflochtene Gitter und dankte ihm.
Er antwortete ihr in Lateinisch. Erneut verstand sie den Inhalt seiner Worte nicht, aber auch jetzt war es ihr egal. Sie verließ den Beichtstuhl und eilte aus der Kirche. Dabei fiel ihr nicht einmal auf, dass das Kirchenschiff nicht mehr von Tageslicht erhellt war. Und gerade als die Dunkelheit sich endgültig über die Stadt legte, erreichte sie den sicheren Hafen ihres kleinen Hinterhäuschens. Sie fühlte sich auf seltsame Weise berauscht und
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