Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
antwortete sie. «Schicken Sie sie heraus.»
Sin machte einen Schritt auf sie zu, stolperte aber und musste sich am Türrahmen festhalten. «Dann werde ich jetzt erst mal Mr. Broadnax einen guten Morgen wünschen.»
Es schien Sin überhaupt nichts auszumachen, dass die Nachbarn ihn in seiner Ungepflegtheit sahen, als er die Treppe hinunterging. Angelica gab Harry und seinen Freunden mit einem stillen Seufzer zu verstehen, dass sie beiseitetreten sollten.
Die zwei Männer kamen der Aufforderung zwar nach, aber in der Art, wie sie dastanden und ihn durch verengte Augen ansahen, lag mehr als nur ein Hauch von Drohung.
Sin summte unmelodiös vor sich hin, als er den Karren umrundete, um den hinteren Teil zu inspizieren. Angelica blieb zwar, wo sie war, konnte aber Victors schwaches Stöhnen hören, als Sins Hand in den Sack wanderte, um nach irgendwelchen Lebenszeichen zu tasten.
«Einhundert Pfund Kartoffeln scheinen mir recht viel zu sein», rief Sin ihr zu. «Aber Ihr Preis ist gerecht. Einverstanden. Wie viele Schilling sagten Sie?» Er kam wieder die Treppe rauf.
«Bringen Sie mir Semjon und Antoscha», flüsterte sie voller Dringlichkeit.
«Noch nicht. Und nicht hier.» Er grinste sie breit an und senkte seine Stimme ein wenig. «Das ist ein schöner, stabiler Sack, in dem Victor da steckt. Aber wie ich sehe, hat er sich eingenässt. Wie freundlich von Ihnen, so viel Stroh für ihn auszulegen.»
Angelica zog zischend den Atem ein. Wenigstens wollte Sin verhandeln und seinen Geschäftspartner wiederhaben. Wahrscheinlich wollte er ihn bei seiner mörderischen Natur selbst beseitigen. Aber das ging sie schließlich nichts an.
«Wo dann?», wollte sie wissen.
Sin gab ihr den Namen eines Gasthauses, das sie auf dem kurzen Weg hierher passiert hatten. «Kennen Sie das, Miss Harrow?»
Sie nickte. «Ich habe es vom Karren aus gesehen.»
«Es gibt dort einen großen Innenhof, wo die Postkutschen halten. Und da sich dort jede Menge Kutscher, Stallburschen und dergleichen herumtreiben, wird uns sicher niemand bemerken. Zwölf Uhr mittags, würde ich sagen.» Er zeigte auf einen Kirchturm, der sich hinter einer Straße ganz in der Nähe erhob. «Die Glocken sind laut. Sie werden sie kaum überhören. Sind wir uns einig?»
«Ja», erwiderte sie wie betäubt.
Eine Minute nach zwölf kutschierte Harry sie mit grimmigem Gesicht durch das Tor des Gasthauses. «Die Sache gefällt mir nicht, Missus. Ich werde nahe bei Ihnen bleiben.»
Er hielt an, übergab einem Stallburschen die Zügel und warf dem Jungen eine Silbermünze zu, als er von dem Karren sprang. Nachdem er noch kurz nach seiner Stute geschaut hatte, legte er eine schwere Hand auf den Sack und nickte Angelica dann zu. Sie konnte sehen, wie der Sack sich bewegte. Das reichte. Sie waren also bereit. Aber wo war Sin?
Er traf spät ein. Und auch nicht in einem Karren. Die Kutsche, die er selbst fuhr, war geschlossen und ein Blick ins Innere wegen der geschlossenen Vorhänge nicht möglich. Sin kam neben Harrys Karren zum Stehen. Und zwar genau an einer Stelle, die man für ihn frei gehalten hatte, wie Angelica plötzlich bemerkte. Die wachsamen Augen der Stallburschen waren fest auf sie, Harry und Harrys großen Freund gerichtet. Mittlerweile betraten auch die anderen Hafenarbeiter, die er mitgebracht hatte, unbemerkt das Gelände.
Wie Sin gesagt hatte, war der Innenhof des Gasthauses ein sehr belebter Ort. Ohne dass Angelica recht erkennen konnte, wie es vonstatten ging, bildeten die Kutschen und Karren schnell eine Art Wand, die ihr Gefährt und sie selbst vor aller Augen schützte. Außer vor den Augen von Sin.
Der große Mann sprang vom Kutschbock. Zwar hatte er einen Mantel über sein schmutziges Leinenhemd, die Kniehose und die Stiefel gezogen, aber er war nicht rasiert und sah immer noch so aus wie zuvor.
«Sie sind pünktlich», rief er ihr zu. Sins Atem roch jetzt noch stärker nach Whiskey als vorhin. Er vermischte sich mit dem Geruch von Heu, Dung und einem Misthaufen aus Küchenabfällen, in denen grunzend die Schweine wühlten.
Harry behielt Sin die ganze Zeit im Auge, ließ seine Hand dabei aber auf dem Leinensack liegen.
Sin grinste ihn nur an und öffnete dann die Tür seiner Kutsche. Im Inneren sah sie … Semjon. Und einen dürren Mann mit Brille, bei der ein Glas fehlte und das andere zerbrochen war. Angelica rang nach Luft.
Die beiden Männer waren nicht gefesselt oder geknebelt, schwiegen aber. Semjon starrte sie mit einem wilden
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