Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
bewegungslos.
Angelica schob eine Hand zwischen das Eisenhalsband und seine Haut. Wo die Haut nicht eingeschnitten war, massierte sie sie und linderte den quälenden Schmerz so gut sie eben konnte.
Doch Semjon ließ ihre Zuwendungen nur einige wenige Momente zu. Dann schloss er die Augen, und sie sah, wie ihm die Tränen aus den Augen traten und bis hin zu seiner Schnauze liefen.
Lass mich nur. Kümmere dich lieber um Antoscha. Tu, was du kannst.
Während sie auf eventuelle Geräusche von oben lauschte, kroch Angelica mit größter Kraftanstrengung zu dem Sekretär. Als sie sah, in welch merkwürdigem Winkel sein Arm abstand, zuckte sie zusammen. Dabei sah Semjons Begleiter eigentlich aus, als würde er friedlich schlafen.
«Es könnte sein, dass er aufschreit, wenn ich ihn berühre, Semjon», flüsterte sie.
Du kannst ihm etwas auf die Zunge träufeln. Unser Entführer arbeitet nicht allein. Die Frau, der dieses Haus gehört, mischt die Rauschmittel an, und er flößt sie uns unter Zwang ein. Sie ist da ganz gleichgültig.
Seine Augen wanderten zur Seite und blieben an einem bestimmten Punkt hängen. Als Angelica in die Richtung schaute, sah sie ein verkorktes Fläschchen auf einem hohen Sims stehen.
Benutz es. Versuch, ihn aufzurichten, damit er besser atmen kann. Wenn er bewusstlos bleibt, kannst du seinen Arm richten.
«Aber ich habe noch nie …»
Ich werde dir erklären, wie es geht, Angelica.
Das schreckliche Eisenhalsband und die Kette hatten ihn bewegungslos wie eine Statue werden lassen, aber sein Verstand war so flink wie immer.
Mit aller Macht gegen ihre Schwäche ankämpfend, gehorchte Angelica und verarztete Antoscha nach Semjons Anweisungen.
«Es könnte sein, dass seine Verletzungen gar nicht so schwer sind», erklärte sie, als sie fertig war. Der Sekretär war zwar noch immer bewusstlos, hatte aber schon eine etwas frischere Gesichtsfarbe, und auch sein Atem ging nicht mehr so stoßweise.
Gut. Semjon starrte geradeaus.
«Wieso ist er nicht wie du auch zu einem Wolf geworden, Semjon?»
Er dachte eine Weile nach und sah sie dabei nur einmal kurz an. Dann schloss er erneut die Augen, um sich von der Anstrengung seiner Bewegungslosigkeit zu erholen.
Die Verwandlung in einen Wolf scheint nur zu geschehen, wenn ich dich beschützen muss, Angelica. Mal vor anderen, mal vor dir selbst. Für den Bruchteil einer Sekunde verzogen sich seine Lefzen zu einem traurigen Lächeln.
«O Semjon, was habe ich nur getan?»
Nichts. Du wolltest nichts Böses und hast auch nichts Böses getan. Es ist für einen Wolf ganz natürlich, dass er die beschützt, die er liebt.
«Ich verstehe», murmelte sie und fing wieder zu schluchzen an.
Weine nicht. Du musst so sein, wie unsere Frauen sind. Stark.
«Für dich kann ich stark sein», erwiderte sie flüsternd und strich ihm über das Fell in seinem Gesicht, bis auch ihm erneut die Tränen kamen.
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Kapitel Fünfzehn
Langsam bekamen sie eine Ahnung, weshalb man ihr Leben verschont hatte.
Seit zwei Tagen waren von oben Schritte diverser Händler zu hören gewesen, die alle möglichen Dinge angeliefert hatten. Angelica saß der Treppe am nächsten und konnte so auch am besten lauschen, was oben vor sich ging. Doch wenn die Nacht hereinbrach und St. Sin wieder sturzbetrunken durch das Haus wankte, kroch sie zu ihren zwei Gefährten.
«Es soll eine Zusammenkunft abgehalten werden», erklärte sie. «Und zwar eine Zusammenkunft anrüchiger Natur, so, wie es klingt.»
St. Sin ist berühmt für seine Orgien.
Sollte man sie zwingen, daran teilzunehmen, würden die Männer von ihren Fesseln befreit werden müssen, dachte Angelica. Und ihr selbst würden die Rauschmittel entzogen werden. Dabei tat sie ohnehin nur so, als würde sie die betäubenden Drogen zu sich nehmen. In Wirklichkeit aber behielt sie die Flüssigkeit einfach im Mund und spuckte das meiste davon später wieder aus. Aber das wenige, was sie dann doch herunterschlucken musste, sorgte dafür, dass der Verstand ihr seltsame Streiche spielte.
In den vielen Stunden, die vergangen waren, hatte Angelica eine Möglichkeit gefunden, die Glieder von Semjons Ketten zu dehnen, sodass er sich zumindest ausgestreckt hinlegen konnte. Gelungen war ihr das, indem sie das Metall an der wärmsten Stelle erwärmte, die sie kannte: zwischen ihren Schenkeln.
Als sie diese Methode zum ersten Mal anwandte und Semjon dazu seinen zersausten Kopf gegen ihre Hüfte presste, kehrte auch der Hauch
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