Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
versuchte, sich von ihrem Platz zu erheben, stellte sie fest, dass man sie an den Stuhl gefesselt hatte.
«Holt die beiden jetzt aus dem Keller», hörte sie Sin sagen. «Der Graf möchte sich gern einen Wein aussuchen. Dieser großspurige Narr. Ich habe ihm eine Besichtigungstour versprochen.»
«Der Größere zerrt an seiner Kette», berichtete Hinch. «Und der andere wird bis zum Morgengrauen tot sein – denken Sie an meine Worte.»
«Dann hat die Wirkung der Betäubungsmittel wohl nachgelassen. Aber wie kann er denn an seiner Kette zerren? Die ist doch viel zu kurz … Ach, vergiss es.»
Hinch gab irgendeine Antwort, aber Sin ging völlig darüber hinweg. «Halt den Mund», blaffte er seinen Handlanger an. «Und sag Lucy, sie soll ihn mit kaltem Wasser überschütten, bevor ihr ihn herbringt. Irgendwo steht ein Eimer zur Kühlung von Punsch und Eis. Nimm den. Der Kerl ist nämlich einfach zu heißblütig.»
«Aber wenn …»
«Tu, was ich dir sage!»
Angelicas Augen weiteten sich voller Entsetzen. Und es dauerte nicht lange, da hörte sie auch schon Semjons tiefes Wolfsknurren und sah kurz darauf, wie er von drei starken Männern an ihr vorbeigezerrt wurde.
Er hatte sie nicht gesehen. Antoscha ist wohl noch zu schwach, als dass sich irgendjemand um ihn schert, dachte sie und machte sich dabei an den Tüchern zu schaffen, die man um ihre Handgelenke und den Stuhl geknotet hatte. Doch sosehr sie sich auch abmühte, es wollte ihr nicht gelingen, sich von ihrer Fesselung zu befreien.
«Weiß auch nicht, wieso er die Bestie nicht einfach abknallt», hörte sie Hinch sagen. Und auch einige der anderen Männer konnten sich ihre Kommentare nicht verkneifen.
«Sin sagt, dass er gar kein Tier ist, Hinchy.»
«Der Kerl beißt, verdammt noch mal!»
Während Angelica etwas mutlos auf ihren Stuhl zurücksank, hörte sie trotz der Gespräche um sie herum, wie Semjons Knurren sich im Raum breitmachte. Soweit sie es beurteilen konnte, waren seine Kräfte viel zu sehr beansprucht, um sich einem Kampf zu stellen. Sein Heulen wurde immer leiser, während er von den Männern durch den Saal gezerrt wurde. Dem Protest und den Geräuschen nach zu urteilen, führten sie ihn zu dem Wassereimer, der eigentlich für die Kühlung des Punsches gedacht war.
Als das Heulen schließlich ganz verstummte, bekam Angelica den schrecklichen Verdacht, dass sie sein Blut auf den Erstarrungspunkt hinuntergekühlt und ihn damit getötet hatten.
Sie zog jetzt wie wild an den Knoten ihrer Fesseln. Dabei wusste sie nur zu genau, dass sie niemals gegen derart viele Männer kämpfen konnte. Und im großen Saal befanden sich noch hundert mehr, die ganz sicher eher Sin als ihr helfen würden.
An dem Platz, wo man sie an den Stuhl gefesselt hatte, war es heiß und stickig. Ihre Gedanken rasten unaufhörlich – auch wenn sie so erschöpft war, dass sie nicht mal mehr den Kopf richtig heben konnte. Plötzlich kam irgendjemand zu ihr und befreite sie von ihren Fesseln. War es Lucy? Angelica versuchte noch aufzustehen, fiel dabei aber in Ohnmacht.
Sie erwachte auf der Bühne, auf der eben noch die anderen Frauen gestanden hatten. Aber trotz ihres auffälligen Kostüms war sie beileibe nicht die einzige Attraktion.
Man hatte Semjon in seine menschliche Form zurückgebracht. Ob das mittels des eiskalten Wassers oder irgendeines aufgezwungenen Zaubertranks gelungen war, vermochte sie nicht zu sagen. Wahrscheinlich beides. Er schien recht angeschlagen, als er in ihre Richtung schaute. Und Angelica stellte mit Entsetzen fest, dass er sie nicht zu erkennen schien.
Seine Augen, die jetzt wieder ihre braune Farbe und nicht mehr das stechende Gold eines Wolfes hatten, blickten sie zunächst gleichgültig an und schauten dann sogar in eine andere Richtung.
Sein Beschützerinstinkt – die Eigenschaft, die überhaupt erst dafür gesorgt hatte, dass er sich in einen Wolf verwandelte – war nicht mehr zu erkennen. Sin wusste mehr als die meisten über den Klan, und es war ihm anscheinend gelungen, durch irgendeine Schwachstelle in Semjons geplagten Geist zu dringen.
Und jetzt befanden sie sich gemeinsam auf einer Bühne, vor der sich ein Haufen zügelloser Trunkenbolde versammelt hatte.
Sin stand seitlich von der Bühne und warf den beiden anzügliche Blicke zu. Dann gab er Angelica mit einer Geste zu verstehen, sich Semjon zu nähern. Und genau in diesem Moment bemerkte sie, dass ihr Liebster noch immer das Eisenband um den Hals trug.
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