Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
bei Semjon zu bemerken. Aber Angelica erkannte sehr wohl, dass sich etwas in ihrem Gefährten veränderte. Und obwohl sie sich mit aller Macht gegen Sin erwehren musste, gelang es ihr schließlich, sich umzudrehen, um zu sehen, wie weit Semjons Transformation vorangeschritten war.
Die Zuschauer spendeten Applaus für ihre wilde Entschlossenheit. Dem festen Griff ihres Entführers halb ausgesetzt, halb entkommen, wehrte sie sich weiter mit Tritten und Bissen gegen die Hiebe der Gerte. Als er sie schließlich bei den Haaren packte, fiel ihre Maske herunter.
Doch dann … Angelica hielt den Atem an, als die ersten Anzeichen von Semjons Fell an seinem Hals auftauchten. Es breitete sich über seine jetzt höher stehenden Schultern aus und wanderte schließlich über seinen gesamten Rücken. Sein Hals wurde so dick, dass das Eisenband erneut viel zu eng wurde.
Doch Semjon war jetzt weitaus stärker, als er es noch im Keller gewesen war. Angelica konnte sehen, wie das Blut in seinen Adern pulsierte. Als sie einen Finger ausstreckte, um den starken Puls zu fühlen, sprach sein Geist zu ihr.
Blut so blau wie die Sonne, die niemals untergeht. Erinnerst du dich noch an unsere Geschichte, Angelica?
«Ja», erwiderte sie flüsternd.
Die Eiswölfe aus längst vergangenen Tagen trugen die Roemi auf ihrem Rücken. So, wie ich dich jetzt in die Freiheit tragen werde.
«Semjon!»
Seine Hände wanderten zu dem Eisenband um seinen Hals und brachen es entzwei. Dann griff er nach Angelica und vereitelte gleichzeitig jeden Versuch von Sin, ihn irgendwie aufzuhalten.
Angelica war jetzt zwar frei, hatte aber dennoch große Schwierigkeiten, zu stehen oder gar fortzulaufen.
Und jetzt hieß es auf der Bühne Mann gegen Wolf.
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Kapitel Achtzehn
Sin wehrte sich mit aller Macht, wurde aber schließlich doch von Semjon überwältigt. Der große Mann wand sich auf dem Boden der Bühne. Seine Schultern wurden von Semjons riesigen Vorderpfoten niedergedrückt, und auch seine ausgestreckten Beine waren auf den Boden gepresst.
Semjons Augen glühten vor Zorn, und seine Beschützerinstinkte waren wieder zu vollem Leben erwacht. Er beugte den zersausten Kopf, öffnete seinen Kiefer und umklammerte damit Sins Kehle.
Dessen keuchendes Flehen um Gnade wurde allerdings von dem ohrenbetäubenden Applaus der Menge übertönt.
«Großartig, Sin!»
«Die bisher beste Vorstellung!»
«Mehr! Gib uns mehr!»
Voller Entsetzen sah Angelica, wie die großen Fangzähne sich aus Semjons Kieferknochen schoben. Einer davon presste sich bereits in Sins Hals, ganz in der Nähe der Drosselvene. Er lag jetzt ganz still und wehrte sich nicht mehr.
Als Angelica sich hinkniete, um die beiden irgendwie auseinanderzubringen, stellte sie fest, dass sie tatsächlich gegen Semjon kämpfte. Ihr Geliebter wurde jetzt nur noch von seinem Instinkt geleitet, und sein Verstand war nicht mehr als menschlich zu bezeichnen. Im Gegenteil – eine seit Jahrhunderten in ihm wohnende Blutrünstigkeit schien von ihm Besitz ergriffen zu haben.
Angelica packte ihn beim Nackenfell. Er befreite sich zwar aus ihrem Griff, aber wenigstens ließ er von dem Hals ab, den er eben noch in Stücke reißen wollte.
Sin keuchte und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Aber der Druck der riesigen Pfoten, die ihn zu Boden pressten, hielt ihn unten.
Als er anfing, wilde Flüche auszustoßen, öffnete Semjons triefender Mund sich erneut.
Diesmal noch weiter.
Als wollte er ihn vom Kopf an verschlingen.
Der Gedanke sorgte dafür, dass Angelicas Herzschlag einen Moment lang aussetzte. An Semjons Gewissen zu appellieren würde rein gar nichts nützen, denn er hatte im Moment gar keines. In diesem Augenblick unterscheidet er sich tatsächlich nicht mehr sonderlich von Sin, dachte sie aufgebracht.
Angelica sah Semjon in die Augen und versuchte, ihn zu beruhigen, indem sie behutsam über seinen riesigen Kopf strich. Und immer noch gelang es ihr nicht, ihn zu erreichen. Sein Bewusstsein war jetzt das eines Wolfes, der vor einer tödlichen Bedrohung stand. Keine Spur mehr von seinen heroischen Vorfahren unter den Roemi. Er war zu einem Eiswolf geworden – sabbernd, ungezähmt und durch und durch gefährlich.
Dennoch bemühte sie sich weiter, zu ihm durchzudringen. Schließlich steckte trotz des Wolfsblutes der Mann unter dem Fell, den sie als Menschen kannte. Ihre vorsichtigen Berührungen seines Brustbeins trafen ihn unvorbereitet, und er drehte sich in ihre Richtung.
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