Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
Dabei hielt er Sin aber immer noch weiter auf den Boden gepresst.
«Semjon, Semjon», flüsterte sie voller Verzweiflung. «Kennst du mich denn nicht mehr? Denk nach … Großer Gott, denk nach und erinnere dich! Du bist mehr als eine Bestie!»
Die winzigen, ovalen Pupillen seiner Augen weiteten sich, als er sie anstarrte. Doch er schüttelte den zersausten Kopf, und die Pupillen zogen sich wieder zusammen.
Waren ihre Worte gehört und verstanden worden? Angelica konnte es nicht sagen, fuhr aber fort, ihn zu streicheln. Und das würde sie so lange tun, wie er es zuließ.
Das murrende Publikum fiel ihr nur am Rande auf. Die Menge schien eindeutig damit gerechnet zu haben, das Blut in Strömen fließen zu sehen – Kunstblut, versteht sich.
Aber stattdessen sahen sie eine Art Schaubild eingefrorenen Terrors, ohne zu begreifen, wie real das Ganze war, und beschwerten sich.
Semjons Kopf schnellte erneut in Angelicas Richtung, so als wollte er unbedingt ihre Stimme hören. Sie murmelte beruhigende Worte, Worte der Zuneigung und Worte, um den Mann im Tier wieder hervorzubringen. Sie sprach so leise und so schnell, dass sie kaum noch zu verstehen war.
Semjons Ohren spitzten sich. Er hörte zu.
Als Sin erneut unter ihm stöhnte, hob der Wolfsmann eine seiner Pfoten mit den langen Krallen, um dem Mann mitten in sein verschwitztes Gesicht zu schlagen. Doch plötzlich hielt er inne und legte sie stattdessen zurück auf Sins Schulter. Allerdings nicht schnell genug.
Auch Sin besaß ungezähmte Instinkte. Der kurze Moment von Semjons Unaufmerksamkeit reichte ihm, um sich etwas aufzurichten und den Wolf abzuschütteln. Semjon landete zunächst noch auf den Hinterbeinen, fiel dann aber doch nach hinten über.
Sin rappelte sich derweil hoch und rannte zur Tür. Das Publikum brüllte erneut vor Begeisterung und schien ganz und gar fasziniert von dieser neuen Entwicklung. Semjon sprang jetzt auf alle viere und wollte gerade die Verfolgung aufnehmen, als ein Schrei von Angelica ihn völlig aus dem Konzept brachte. Er fiel erneut hin und landete auf unschöne Weise auf allen vieren auf dem Boden der Bühne.
«Das Biest und die Hexe!»
Voller Angst, dass er sich verletzt haben könnte, eilte Angelica zu ihm.
Er schnappte nach Luft, und seine Seiten hoben und senkten sich. Langsam setzte die Rückverwandlung in einen Menschen ein.
«Er wird wieder zum Mann werden», meldete sich Sins Stimme ruhig und unheilvoll aus der Dunkelheit zurück. «Was bieten Sie?»
«Überzeugende Vorstellung, Sin!», war die Stimme des Mannes, die Angelica so bekannt vorgekommen war, zu vernehmen. Sie schnellte herum und suchte das Publikum danach ab.
Wo war er nur?
«Ich biete dreitausend für das Paar! Für mich und meine Frau!», erklärte der Mann triumphierend.
«Abgemacht.» Das war Sins Stimme.
Jubelnde Hurra-Rufe des Publikums erklangen, die aber schnell einer erneuten Stille wichen. Angelica hörte Schritte.
Sin kehrte auf die Bühne zurück. Aber als sie sah, wer ihm da nachfolgte, krampfte sich ihr Herz förmlich zusammen. Es handelte sich um Mr. und Mrs. Congreve.
Angelica schnappte nach Luft. Hatten sie unter der Maske etwa ihr Gesicht erkannt? Höchstwahrscheinlich nicht. Ihr Haar war streng nach hinten gekämmt worden, und ihr früherer Herr hatte keine Ahnung, wie sie nackt aussah.
Doch das war nicht die einzige Frage, die sie brennend beschäftigte. Hatten sie Semjon vielleicht erkannt? Sie hatten ihn als Gentleman in zivilisierter Kleidung kennengelernt und nicht als Wolfsmann, der sich im Verlauf dieser obszönen Feier mehrfach verwandelt hatte.
Erst war er nichts weiter gewesen als ein nackter, gefesselter Sexsklave, den man zum Verkauf angeboten hatte, doch dann war er zu einer mörderischen Bestie geworden. Semjon war ein Wesen, das irgendwo zwischen der realen, menschlichen Welt und dem übernatürlichen Reich von seinesgleichen lag.
Der Atem der beiden war alkoholgeschwängert, und Angelica fiel auf, dass Mr. und Mrs. Congreve schwankten. Sie waren betrunken. Es war also höchst unwahrscheinlich, dass ihnen bewusst war, gerade einen ihrer ehrenwerten Gäste und ihre ehemalige Zofe erworben zu haben.
Aber wenn sie es bemerken, dann wird die Hölle losbrechen, dachte Angelica voller Panik.
Sin zog seine beiden Gefangenen ins Licht und führte sie an den seitlichen Rand der Bühne. Während Semjon – noch ganz benommen von dem schnellen Wechsel seiner Körperform – sich unsicher wieder aufrichtete, um sich
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