Die Leopardin
handle es sich um die größten Selbstverständlichkeiten. Dazu passte auch die Aura von Unwirklichkeit, die das Haus umgab. Obwohl es über ungefähr zwanzig Schlafzimmer verfügte, war es im »Cottage-Stil« erbaut, einer architektonischen Marotte aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Mit seinen Schornsteinen und Giebelfenstern, Walmdächern und ziegelbedeckten Erkern wirkte es im Mondlicht sehr wunderlich, wie eine Kinderbuchillustration – ein großes, weitläufiges Haus, in dem man den ganzen Tag Verstecken spielen konnte.
Es herrschte absolute Stille. Flick wusste, dass die anderen Mitglieder des Teams bereits da waren, doch die schliefen sicher noch. Flick kannte sich im Haus aus und fand im Dachgeschoss zwei freie Zimmer. Auch Greta war heilfroh, endlich ins Bett zu kommen.
Flick lag noch eine Zeit lang wach und grübelte darüber nach, wie sie es am besten anstellte, aus dieser Gruppe höchst unterschiedlicher Individualistinnen eine homogene Kampftruppe zu schmieden, schlief aber bald darüber ein.
Um sechs Uhr morgens war sie wieder wach und stand auf. Von ihrem Fenster aus konnte sie das Gestade des Solent erkennen, jener Meeresenge, die die Isle of Wight vom Festland trennt. Im grauen Morgenlicht sah die See wie Quecksilber aus. Flick setzte Wasser auf, damit Greta sich rasieren konnte, und brachte es ihr aufs Zimmer. Dann weckte sie die anderen.
Percy Thwaite und Paul Chancellor kamen als Erste in die große Küche auf der Rückseite des Hauses. Percy wollte Tee, Paul lieber Kaffee. Flick forderte sie auf, sich ihre Getränke selbst zuzubereiten; sie sei nicht zur SOE gegangen, um Männer zu bedienen.
»Ich mache dir auch manchmal Tee«, sagte Thwaite verschnupft.
»Stimmt, mit so einer Noblesse-oblige-Attitüde«, gab sie zurück. »Wie ein Herzog, der dem Hausmädchen mal die Tür aufhält.«
Paul Chancellor lachte. »Ihr Briten macht mich noch wahnsinnig.«
Um halb sieben erschien ein Armeekoch, und kurze Zeit später saßen sie alle drei an dem großen Tisch und aßen Spiegeleier mit dicken Speckstreifen. Für Geheimagenten waren die Lebensmittel nicht rationiert: Sie mussten schließlich Reserven aufbauen. An ihren Einsatzorten bekamen sie mitunter tagelang nichts Anständiges zu essen.
Die Frauen kamen nacheinander die Treppe herunter. Flick war erstaunt über Maude Valentine, die sie jetzt zum ersten Mal sah: Weder Paul noch Percy hatten ihr gesagt, wie hübsch das Mädchen war. Sie erschien picobello gekleidet und parfümiert. Leuchtendes Lippenrot betonte ihren Rosenknospenmund, als hätte sie vor, im Savoy zu dinieren. Sie setzte sich neben Paul Chancellor und sagte in suggestivem Ton: »Gut geschlafen, Major?«
Der Anblick von Ruby Rowlands dunklem Piratengesicht erleichterte Flick. Wäre Ruby in der Nacht auf Nimmerwiedersehen verschwunden, hätte es sie auch nicht überrascht. Sicher – man hätte sie in diesem Fall wieder wegen Mordes verhaften können. Sie war nicht begnadigt worden, und die zurückgezogene Anklage konnte jederzeit erneuert werden. Damit sollte Ruby von einer Flucht abgehalten werden, aber hart gesotten, wie sie war, hätte sie sich durchaus auch anders entscheiden können.
Jelly Knight sah man um diese frühe Tageszeit ihr Alter an. Sie setzte sich neben Thwaite und lächelte ihm freundlich zu. »Ich nehme an, du hast geschlafen wie ein Murmeltier«, sagte sie.
»Das kommt von meinem reinen Gewissen«, erwiderte er.
Jelly lachte. »Gewissen! Du hast doch gar keines!«
Der Koch offerierte ihr einen Teller mit Eiern und Speck. Jelly zog ein Gesicht und sagte: »Nein danke, mein Lieber, ich muss auf meine Figur achten.« Ihr Frühstück bestand aus einer Tasse Tee und mehreren Zigaretten.
Als Greta in die Küche kam, hielt Flick unwillkürlich den Atem an.
Sie trug ein hübsches Baumwollkleid mit einem kleinen falschen Busen. Eine rosa Strickjacke ließ ihre Schultern runder erscheinen, und ein Chiffontuch verhüllte den maskulinen Hals. Sie trug eine Perücke mit kurzem dunklem Haar. Ihr Gesicht war stark gepudert, doch hatte sie von Lippenstift und Augen-Make-up diesmal nur sehr dezent Gebrauch gemacht. In krassem Gegensatz zu ihrer rassigen Bühnenerscheinung trat sie jetzt in der Rolle einer eher unscheinbaren jungen Frau auf, der ihre überdurchschnittliche Körpergröße ein wenig peinlich ist. Flick stellte sie den anderen vor und beobachtete deren Reaktionen. Es war der erste Test für Gretas Verwandlungskünste.
Alle Frauen lächelten ihr
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