Die Letzte Arche
Crewmodul war ein aufrecht stehender Zylinder. Tatsächlich war es ein umgebauter großer Treibstofftank der Ares-V-Trägerrakete, ein Überbleibsel des problembehafteten Konstruktionsprozesses des Projekts; als die Entscheidung getroffen wurde, auf Ares-Raketen zu verzichten und mit einer Orion zu fliegen, hatten sich die Ingenieure dafür eingesetzt, die Komponenten der aufgegebenen Ares-Technologie weiterzuverwenden. Das Modul war durch Gitterelemente, die sich zur Vergrößerung des Innenraums abmontieren ließen, in Decks unterteilt. Momentan standen die ausklappbaren Andruckliegen der Crew auf den Decks. Im Zentrum durchstieß eine Stange, die einer Feuerwehrrutsche ähnelte, die Gitterböden. Einer nach dem anderen kletterten die Mitglieder der Crew die seitlich an der Stange befestigten Metallsprossen hinauf.
Holle und Kelly erreichten diese zentrale Leiter. Kelly stieg als Erste hinauf, Holle folgte ihr. Sie kletterten durch das Modul nach oben.
Die Innenarchitektur des Moduls griff auf, was sich auf der ISS als nützlich erwiesen hatte: Farbcodes und Lichtstreifen,
die bei der Orientierung in der Schwerelosigkeit helfen sollten, eine Vielzahl zusammenlegbarer Aufbewahrungsbehälter, Workstations und Konsolen. Überall waren Klett-Pads und Haltegriffe, bereit für den freien Fall. Gegenwärtig befanden sich die einzigen wichtigen Funktionalitäten jedoch auf den beiden Brücken in der Nase der Crewmodule, und die Bildschirme der Workstations zeigten allesamt Gordo Alonzos gleichmütiges, beruhigendes Gesicht vor einem verschwommenen Bild des Startkontrollzentrums Pikes Peak sowie einen Countdown-Timer.
Gordos Stimme ging jedoch unter. Auf allen Decks herrschte Chaos. Leute lagen auf den Liegen, zogen ihre Gurte fest und schlossen sich an Kommunikations- und Entsorgungssysteme an. Aber Holle sah, dass andere sich um Plätze stritten und einander mit Marken vor dem Gesicht herumfuchtelten. Die meisten trugen zwar normale Fluganzüge wie sie selbst, viele aber auch nicht. Eine ganze Reihe der Leute an Bord kannte sie nicht einmal.
»Wo ist der Sicherheitsdienst?«, rief sie zu Kelly hinauf. »Wie, zum Teufel, sind die alle an Bord gekommen?«
»Spielt keine Rolle«, rief Kelly herunter, während sie die Leiter so entschlossen hochkletterte, wie sie die Gangway hinaufgestiegen war. »Es gibt keinen Sicherheitsdienst mehr, Holle, nicht hier drin. Jetzt sind wir auf uns selbst gestellt. Wir werden die Sache im Weltraum klären. Das hier ist dein Deck, stimmt’s?«
»Ja.« Kelly musste weiter, zur Brücke. »Gute Reise, Kel.«
Kelly grinste aufgeregt und furchtlos. »Darauf habe ich mein ganzes Leben lang gewartet. Es wird garantiert eine gute Reise. Wir sehen uns jenseits des Mondes.« Sie kletterte weiter und verschwand nach oben, während Holle von der Leiter trat.
Sie fand ihre Liege problemlos; es war eine von zweien, die unmittelbar nebeneinander standen. Die Liegen waren nummeriert; die Nummern entsprachen denen auf den Bordmarken. Die Liege, ein schlichtes, zusammenklappbares Ding aus Plastik und Schaumstoff, war nach den Konturen ihres Körpers geformt, und Holle hatte sich im Training daran gewöhnt; nun ließ sie sich erleichtert darauf nieder und verstaute ihr Gepäck in dem Fach darunter.
Sie sah, wie Theo Morell, der Sohn des Generals, in einem viel zu großen Overall die Rutschstange herunterzuklettern versuchte, entgegen dem Strom der anderen. »Theo«, rief Holle ihm zu. »Hey, Theo!«
Er schaute sich um, verwirrt von dem Lärm. Dann erblickte er sie und kam zögernd herüber. »Holle?«
»Du siehst aus, als hättest du dich verlaufen.«
»Da liegt jemand auf meiner Liege«, sagte er unglücklich. »Oben auf Deck neun. Eine Frau. Ich hab ihr meine Marke gezeigt, mit der Nummer, aber sie hat bloß gesagt …«
»Mach dir nichts draus.« Sie blickte in sein gequältes Gesicht. Sie sollte ihn hassen; er hatte Mels Platz eingenommen. »Hier. Nimm die, neben mir.«
»Aber die passt nicht zu meiner Nummer.« Er wühlte in seiner Tasche. »Ich habe die Marke …«
»Momentan ist alles ein bisschen chaotisch. Setz dich einfach, schnall dich an, und wenn jemand mit der Nummer für diesen Platz kommt – tja, darum kümmern wir uns, wenn es so weit ist. Verstau dein Gepäck unter der Liege. Du hast doch Gepäck, oder?«
»Hab ich verloren«, sagte er. »Ich bin von der Stange gestoßen worden.«
»Herrgott, Theo, du bist vielleicht ein Hanswurst. Na ja, du hast viele Jahre Zeit, es zu
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