Die letzte Aussage
das T-Shirt vorsichtig aus, streift mir behutsam die Schlafanzugjacke über die Schultern, als wäre ich ein Baby.
Dann nimmt er mich in beide Arme, zieht mich an sich, und ich bin so müde, so erschöpft, dass ich einfach nur daliege. Ich höre sein Herz wie eine Trommel schlagen. Er drückt mich, und einen Augenblick fühlt es sich … ich weiß auch nicht … ganz normal an. Vertraut.
Nach einer Weile sagt er: »Was ist das Allerschlimmste gewesen, Ty?«, und ich höre dieses Wort immer noch in meinem Kopf summen – wertlos –, aber ich kann es nicht aussprechen. Ich schüttele den Kopf, und er sagt: »Das gibt sich alles wieder. Ich verspreche es.«
Er sollte keine dermaßen großen Versprechungen machen. Aber ich bin froh, dass er es trotzdem getan hat.
Kapitel 36
Entzug
Ich weiß nicht, wieso die Leute behaupten, dass man gewalttätig wird, wenn man Spiele auf der Playstation oder auf dem Computer spielt. Beim Zeitungsaustragen habe ich einmal die Schlagzeile gelesen: »Killer-Videospiele lösen Gewalt bei Jugendlichen aus«, in der Daily Mail. Ich weiß auch nicht, warum sie immer noch Videospiele genannt werden. Wer hat denn heute noch Video?
Jedenfalls liegen sie völlig falsch damit, weil Spielen das Gegenteil von gewalttätig ist. Wenn du spielst, bist du total in Sicherheit, weil dir niemand etwas antun kann. Du bist beschäftigt und benutzt deinen Verstand, also ist dir nicht langweilig. Du kannst auch niemand anderen verletzen. Wie soll da also bei Jugendlichen Gewalt ausgelöst werden?
Zwischen diesen Spielen und dem richtigen Leben besteht ein Riesenunterschied. Wenn richtige Menschen umgebracht werden, dröhnt im Hintergrund keine Musik. Mörder haben nicht immer hässliche Visagen und sind schwarz angezogen. Das Leben wäre viel besser, wenn es mehr wie in den Spielen wäre. Dann würde man nämlich immer noch einen zweiten Versuch bekommen.
Ehrlich gesagt, wenn alle Leute viel mehr solcher Spiele spielen würden, würde es viel weniger richtige Verbrechen geben, jede Wette. Zeitungen wie die Daily Mail sollten lieber Werbung für diese Spiele machen.
Ich weiß das alles, weil mir Archies Mum, als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, seine alte Playstation und haufenweise Spiele und einen alten Fernseher mitgegeben hat, an den ich sie anschließen konnte. Und seit ich in das Hochhaus in Birmingham gezogen bin – das Ding ist genauso hässlich, wie man es sich vorstellt –, habe ich genau das getan. Tagein, tagaus, schon einen ganzen Monat lang. Von Level zu Level – immer weiter.
Meine Mum meckert ein bisschen rum, dass ich den Schulstoff nachholen soll, ehe ich im Januar in irgendeiner vergammelten Schule in Birmingham anfange. Aber wenn ich daran denke, dass ich einfach in eine zehnte Klasse gesteckt werde, ohne Freunde und ohne jede Ahnung, was die in den letzten sechs Monaten gelernt haben, krieg ich Anfälle und meine Narbe tut weh, und ich muss mich weit nach vorne zum Bildschirm beugen, um meine Mum auszublenden.
Gran hat versucht, mit mir über diese ganze Messergeschichte zu reden – »Warum, Tyler? Was haben wir denn falsch gemacht? Wie konntest du nur so etwas tun?« –, aber ich hatte gerade Level 15 von Wolverine erreicht und nur gemurmelt: »Ein andermal, ja, Gran?« Sie hat es nicht wieder versucht. So wie sie mich ansieht – enttäuscht, wütend, verwirrt –, kriege ich jedes Mal den Drang, sofort wieder zu meiner Konsole zu rennen.
Heute ist Weihnachten, und ich muss wegen dem Abendessen aufhören zu spielen, obwohl ich überhaupt keinen Hunger habe. Ich schlinge so schnell es geht ein bisschen Truthahn mit Kartoffeln runter, verzichte auf den Nachtisch und mache mich wieder an Grand Theft Auto. Mann, hätte ich dieses Spiel doch nur gespielt, ehe Arron sich mit Jukes und den anderen eingelassen hat, da hätte ich viel besser gewusst, wie solche Sachen ablaufen. So was sollte in der Schule unterrichtet werden, jedenfalls wäre es wesentlich nützlicher als der Kram über Shakespeare und die alten Wikinger.
Mein Dad kommt um 18 Uhr. Seit wir hierher gezogen sind, sehe ich ihn zum ersten Mal, weil er in New York gearbeitet hat. Er hat ein paarmal angerufen, aber am Telefon kann ich schlecht mit ihm reden. Ich bin nicht daran gewöhnt, ihn um mich zu haben, deshalb weiß ich auch nicht, was ich sagen soll, wenn er wieder weg ist.
Er lehnt am Rahmen meiner Zimmertür und sieht sich um. »Gar nicht mal so schlecht«, sagt er. »Schön hell. Ein Eimer Farbe
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