Die letzte Aussage
Tränen. »Was ist mit dir, Ty? Nathan hat es nicht so gemeint. Er hat bestimmt gedacht, du bist ein Einbrecher, aber das stimmt nicht. Es ist Ty, Nathan.«
»Steh auf«, sagt Nathan. Ich komme mühsam hoch und wanke in Richtung Sofa. Mein Arm fühlt sich an, als würde er nur noch an einem Faden hängen. Aus einem Schnitt auf Nathans Stirn tropft Blut. Dort hat Barbie-Meerjungfrau zugeschlagen.
Shanice springt mir auf den Schoß, drückt mich fest an sich und küsst mein geschundenes Gesicht. Mir wäre eslieber, sie würde damit aufhören. Ich bin so hasserfüllt, dass ich nichts anderes denken oder fühlen will. Und schon gar nicht will ich anfangen zu heulen, was jetzt durchaus passieren könnte.
»Geh wieder ins Bett, Shanice«, sagt Nathan. »Du musst in drei Stunden in die Schule, du brauchst deinen Schlaf.«
Shanice steckt nur den Daumen in den Mund, schüttelt den Kopf und kuschelt sich an mich. »Ich bleibe hier bei Ty, damit du ihn nicht mehr haust«, sagt sie. »Ty, wann kommt Arron wieder nach Hause?«
»Das weiß ich nicht«, antworte ich. »Tut mir leid, Shanice, aber ich weiß es nicht.«
»Das dauert noch«, sagt Nathan, geht ins Schlafzimmer der Mädchen und holt Shanices Disney-Prinzessinnenbettdecke. Er wickelt sie darin ein und schon zwei Minuten später ist sie eingeschlafen.
Nathan holt sich einen Stoß Küchenpapier und wischt sich das Gesicht ab. Er schließt die Tür zum Balkon auf und zieht den kaputten Fernseher hinaus. Dann saugt er mit dem Staubsauger das Glas auf und räumt Shanices Spielsachen weg, wobei er jedes sorgfältig ausschüttelt, damit auch ja keine Glassplitter in Barbies Haaren oder an anderen Spielsachen kleben bleiben.
Erst als er sich wieder hinsetzt, redet er mit mir. »Das stimmt nicht«, flüstert er, »ich habe deiner Gran nichts getan. So etwas würde ich nie tun. Ich weiß nicht, wer dir so was gesagt hat, aber es stimmt nicht.«
»Niemand hat mir was gesagt«, erwidere ich langsam. »Ich … ich hab’s einfach gewusst.«
Er schüttelt den Kopf. »Du kannst nicht einfach auf jemanden losgehen, bloß weil du dir irgendetwas einbildest. Du musst dich erst vergewissern. Dich schlaumachen. Mann, du kannst nicht irgendwelche Schlüsse ziehen, du musst genau hinsehen und rausfinden, was wahr ist und was nicht.«
»Du kennst sie … du kennst Jukes und seine Familie. Und die wollen mich umbringen. Es hätte gut sein können, dass du für sie arbeitest.«
»Hätte sein können, ja. Aber es ist nicht so. Nie gewesen. Ich hab mich aus all dem rausgehalten. Nicht so wie mein kleiner Bruder. Er hat es kaum erwarten können, endlich mitzumischen.«
»Arron? Er hat doch nicht … Ich glaube nicht, dass …«
»Davon hat er dir natürlich nichts erzählt«, sagt Nathan. »Er hat dir überhaupt nichts erzählt, stimmt’s? Dein guter Freund Arron.« Er flüstert immer noch, wegen Shanice, aber seine Stimme trieft nur so vor Verachtung.
In meinem Kopf schwirrt alles durcheinander, und ich muss dagegen ankämpfen, nicht zu gähnen. Es ist sehr heiß in der Wohnung und Shanices warmer Körper hält mich auf dem Sofa gefangen.
»Er hat gesagt … dass wir uns schützen müssen«, sage ich. »Dass er abgezogen worden sei. Er hat mir gesagt, ich soll ein Messer mitnehmen, und er hat mich mit Jukes und Mikey bekannt gemacht und gesagt, dass wir Schutz brauchen. Und sie haben gesagt, das können wir haben, wenn wir ein paar Jobs für sie erledigen, und ich habe Nein gesagt, aber dann … später dann wollte Arron, dassich ihm dabei helfe, einen Jungen abzuziehen. Damit wir in die Gang aufgenommen werden. Damit sie uns Schutz bieten. Ich habe Nein gesagt, aber vielleicht … vielleicht wäre alles anders gelaufen, wenn ich getan hätte, was er von mir wollte. Vielleicht wäre Rio dann nicht erstochen worden.«
»Ja, klar, schon verstanden«, sagt Nathan. »Arrons Verteidiger hat mir deine Zeugenaussage gezeigt. Ein Haufen blödsinniger Schwachsinn ist das, mehr nicht.«
Ich bin verwirrt. Ich denke darüber nach, was ich gerade gesagt habe. Es entsprach alles der Wahrheit, da bin ich sicher. Erst später habe ich angefangen zu lügen, an der Stelle, als ich Arrons Arm aufgeschlitzt habe.
»Überleg doch mal«, sagt Nathan. »Arron hat schon seit Monaten kleine Jobs für die Jungs erledigt. Hat für sie Drogen an eurer Nobel-Schule verkauft und diese anderen Sachen, Handys abgezogen, iPods und das alles. Er hat bereits alles getan, um ihren Schutz zu kriegen. Wieso sollte
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