Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzte Delikatesse

Die letzte Delikatesse

Titel: Die letzte Delikatesse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Muriel Barbery
Vom Netzwerk:
Hang, den Dialog zu sabotieren, unter einem hochtrabenden Zynismus die Gehemmtheit des traurigen Kindes zu verbergen, an seiner Seite eine Komödie zu spielen, die zwar brillant, aber dennoch eine Illusion war. Paul, der verschwenderische Neffe, der Liebling, geliebt dafür, daß er nein zu sagen wagt, es wagt, gegen die Gesetze des Tyrannen zu verstoßen, wagt, in deiner Gegenwart laut und vernehmlich zu sprechen, wenn alle nur flüstern: Verrückter Alter, der wildeste, der gewalttätigste, der rebellischste aller Söhne ist das alles doch nur mit der ausdrücklichen Erlaubnis des Vaters, und der Vater ist es, der aus einem ihm selbst unbekannten Grund diesen Unruhestifter braucht, diesen Stachel mitten im häuslichen Herd, diese Insel des Widerspruchs schließlich, durch die sämtliche allzu einfachen Kategorien von Willen und Charakter widerlegt werden. Ich war nur deshalb dein böser Geist, weil du es so gewollt hast, und welcher vernünftige Heranwachsende hätte dieser Verlockung wohl widerstanden, der Verlockung, der geschmeichelte Statist eines Demiurgen zu werden, indem er in die Rolle des Rebellen schlüpfte, die dieser eigens für ihn geschrieben hatte? Verrückter Alter, verrückter Alter … Du verachtest Jean, du hebst mich in den Himmel, und dabei sind wir beide bloß das Produkt deiner Sehnsucht, mit dem einzigen Unterschied, daß Jean daran krepiert, während ich es genieße.
     
    Aber es ist zu spät, zu spät, um die Wahrheit zu sagen, zu spät, um zu retten, was hätte gerettet werden können. Ich bin nicht christlich genug, um an Bekehrung zu glauben, vor allem nicht an Bekehrung in letzter Minute, und als Buße werde ich mit der Last meiner Feigheit, einen gespielt zu haben, der ich nicht war, weiterleben, bis auch mich der Tod holt. Ich werde trotzdem mit Jean sprechen.

Die Erleuchtung
Rue de Grenelle, Zimmer
     
     
    Da, plötzlich, erinnere ich mich. Tränen quellen aus meinen Augen. Ich murmle meiner Umgebung frenetisch ein paar unverständliche Worte zu, ich weine und lache gleichzeitig, hebe den Arm und fuchtle aufgeregt mit den Händen. Um mich herum verbreitet sich Aufregung, man ist besorgt. Ich weiß, daß ich aussehe wie das, was ich im Grunde bin: ein Mann kurz vor der Agonie, der an der Schwelle zum Tod in die Kindheit zurückfällt. Dank einer gigantischen Anstrengung gelingt es mir, meine Erregung vorübergehend zu bezwingen – Titanenkampf mit meiner triumphierenden Freude, denn ich muß mich unbedingt verständlich machen.
    »Mein … kleiner … Paul«, gelingt es mir mühsam zu artikulieren, »mein … kleiner … Paul … tu … mir … einen … Gefallen.«
    Er hat sich zu mir heruntergebeugt, seine Nase berührt fast die meine, seine angstvoll verzerrten Augenbrauen bilden ein wunderbares Motiv über seinen verzweifelten blauen Augen, sein ganzer Körper ist angespannt in der Anstrengung, mich zu verstehen.
    »Ja, ja, Onkel«, sagt er, »was möchtest du, was möchtest du?«
    »Geh … kauf mir … Chouquettes {  } «, sage ich und merke mit Entsetzen, daß ich am Frohlocken, das meine Seele bei diesen wundervollen Worten durchströmt, krepieren könnte, noch bevor meine Stunde geschlagen hat. Ich erstarre, aufs Schlimmste gefaßt, doch nichts geschieht. Ich atme wieder.
    »Chouquettes? Chouquettes willst du haben?«
    Ich nicke mit einem armseligen Lächeln. Auf seinen bitteren Lippen zeichnet sich langsam ebenfalls ein Lächeln ab.
    »Das möchtest du also, verrückter Alter, Chouquettes?« Er drückt liebevoll meinen Arm. »Ich gehe. Ich gehe sofort.«
    Hinter ihm sehe ich, wie Anna sich regt, und ich höre sie sagen: »Geh zu Lenôtre, das ist der nächste.«
    Panisches Entsetzen schnürt mir das Herz zusammen. Wie in den schlimmsten Alpträumen scheint mir, es dauere eine Ewigkeit, bis mir die Worte über die Lippen kommen, während die Bewegungen der Menschen um mich herum sich rasend beschleunigen. Ich spüre, daß Paul um die Türecke verschwinden wird, bevor das, was ich zu sagen habe, an die freie Luft gelangt, an die Luft meines Heils, die Luft meiner Erlösung. Da rege ich mich, gestikuliere, werfe mein Kissen auf den Boden, und, oh unendliche Barmherzigkeit, oh Wunder der Götter, oh unsägliche Erleichterung, sie drehen sich nach mir um.
    »Ja, Onkel?«
    In zwei Schritten – aber wie machen sie das bloß, daß sie so flink sind, so schnell, ich bin wohl schon in einer anderen Welt, von der aus gesehen sie von der gleichen Raserei gepackt zu sein scheinen

Weitere Kostenlose Bücher