Die letzte Geisha: Eine wahre Geschichte (insel taschenbuch) (German Edition)
ich nichts sonst als meinen Bruder, aber weil das Argument nicht zieht, habe ich vom nächsten Tag an unangekündigt aufgehört, in der Kantine zu arbeiten.
Ich Lebe für meinen Bruder
Schöne Augen
Ich habe mich eben verächtlich als »alte Schlampe« tituliert, aber wenn ich es jetzt bedenke, war ich damals gerade erst 21 Jahre alt.
»Schwesterchen, warum gehst du nicht zur Arbeit?« fragte mein Bruder, und im Scherz gab ich zurück:
»Vielleicht sollte ich lieber Dirne werden?«
Da wurde er ernst und sagte laut schluchzend:
»Bevor du so was tun willst, lass' ich lieber die Schule sein und geh arbeiten.« Mein Bruder bedeutete mir alles. Meine Träume, meine Liebe, alles galt meinem Bruder, ich hatte mir das zum Daseinszweck gemacht und daraus den Mut geschöpft, das leidige Leben durchzuhalten. Wie unermeßlich war meine Scham, daß ich nicht lesen und schreiben konnte!
Ich will meinem Bruder wenigstens eine mittelmäßige Ausbildung ermöglichen. Er braucht keinen Titel, um prominent genannt zu werden, und es ist auch nicht nötig, ihn steinreich werden und im eigenen Dienstwagen spazierenfahren zu lassen. Wenn er es soweit bringen und dann Geisha kaufen, sternhagelvoll wilde Dinger drehen und anderen Leuten Leidestränen zufügen würde, hätte es gar keinen Sinn. Ich will ihn nur zu einem Menschen machen, der, wenn er ins Leben eintritt, seinen Namen schreiben kann, der gewissenhaft arbeitet, dem es nicht an einem ordentlichen Essen dreimal täglich fehlt, der aufrechten Hauptes stolz seinen Lebensweg geht und dem es jederzeit erspart bleiben soll, eine Schande verheimlichen zu müssen – das war mein einziger Wunsch. Mein eigenes Leben ist eh schon vertan, da reicht es, der Nährboden meines Bruders zu sein; das war meine Überzeugung.
Er sagte, als er zu dem Maurer gegeben wurde, sei als Bedingung ausgemacht worden, daß er zumindest in die Grundschule geschickt werde, aber weil er nur die Hälfte des jährlichen Unterrichts besuchen konnte, war er nicht mitgekommen. Deshalb hatte er auch, als wir hierher kamen, anfangs gesagt, er hasse die Schule, weil er nichts kapiere, doch ich schimpfte und machte ihm Mut; ich ging zum Klassenlehrer, erzählte ihm, was es mit ihm auf sich habe, und bat ihn inständig, den Bub nicht zu schinden. So brachte ich ihn dazu, daß er weiter zur Schule ging. Danach machte ihm die Schule Spaß, und da wäre es eine Katastrophe gewesen, wenn ich das aus eigener Schuld vermasseln würde und mein Bruder die Schule verlassen müßte.
Wenn mein Bruder nicht dagegen gewesen wäre, dann wäre ich womöglich wirklich wieder zu meinem früheren, schmutzigen Leben zurückgekehrt. Dieser unverdorbene Junge, mochte er auch seinen Bauch mit karger Kost füllen und Lumpen am Leib tragen, der bat mich mit seinen schönen Augen, die bis auf den Grund meiner Seele hindurchzuschauen scheinen, nicht Geisha oder Dirne zu sein.
»Schwester, abends ist Schlafenszeit, da braucht man nicht zu essen. Geh schnell ins Bett. Wenn man eingeschlafen ist, vergißt man, daß man Hunger hat.«
Mit solchen Reden legten wir uns ins Bett, noch bevor es dunkel war, und starrten die Bretter an der Decke an. Weil wir keine Ersparnisse hatten, waren unsere Lebensmittel sofort alle. Ich ging täglich Muscheln aus dem Sand puhlen und machte ein Süppchen davon, und beim Essen sagten wir dabei zueinander:
»Wenn man da noch Miso reintäte, das würde schmecken!«
Wander-Einkäuferin
Bald darauf hörte ich von Leuten aus der Nachbarschaft, als Einkäufer könne man gut Geld verdienen. Ich besuchte Karuta, borgte mir Startkapital und ließ mich bei den Wander-Einkäufern aufnehmen.
Weil man damals aber nicht so einfach nach Belieben Eisenbahnfahrkarten kaufen konnte, machte das gewaltige Mühe. Ich schlief erst mal, die Arme um die Knie gelegt, auf der Gasse, bestieg am Morgen, wenn ich endlich eine Fahrkarte ergattert hatte, den ersten Frühzug, suchte mir eine ländliche Gegend aus, wo kaum jemand hinkommt, lief über drei Meilen da herum und kam, den Rücken und beide Hände voll beladen mit Reis und Kartoffeln, zurück. Den erschöpften Leib voranpeitschend, rannte ich dann in Asakusa oder Ochanomizu herum, um das Eingekaufte weiterzuverkaufen.
Den Preis für die Kartoffeln kann ich nicht vergessen: Für 8 Yen eingekauft, habe ich sie für 12 Yen weiterverkauft. Mein Bruder sorgte für mich, wenn ich abends total fertig heimkam, und immer hatte er ein Essen vorbereitet, auch wenn es mal neun oder
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