Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
nach, ob die Oliver Twists inzwischen ihre elektronischen Fallen im Moskauer Stromnetz gelegt hatten.
25
Manhattan, New York City
Eine Stunde später sah Jack sie.
Seine Mutter schritt in ihrem typischen steifen Gang den Bürgersteig entlang. Sie trug einen hellblauen Regenmantel, ihr Haar war makellos gestylt und mit mehr grauen Strähnen durchsetzt, als er es in Erinnerung hatte. Sie war mit Einkaufstüten aus einem nahe gelegenen Lebensmittelladen bepackt. Rasch überquerte er die Straße und lief ihr entgegen.
Bitte, dreh dich nicht weg, dachte er. Bitte.
Er blieb stehen und wartete, dass sie zu ihm kam. » Hi, Mom.«
Sie blieb ebenfalls stehen und studierte ihn unter ihrem Regenschirm wie ein altes Foto, von dem sie nicht mehr wusste, wann und wo es geknipst worden war. Ihr Schweigen zog sich quälend in die Länge. Er wünschte sich, der Beton würde sich unter seinen Füßen öffnen und ihn verschlucken. Regentropfen fielen von ihrem leicht geneigten Schirm. » Jack. Hallo.« Sie wirkte überhaupt nicht überrascht.
Er griff nach ihren Einkaufstüten. » Die sehen schwer aus.« Er sah, dass sie Reis und Huhn gekauft hatte, aber auch Oreo-Kekse, Äpfel und Jalapeño-Kartoffelchips. Seltsam, sie kaufte immer noch seine Lieblingssorte.
Sie ließ ihn die Tüten tragen. » Ja, sind sie. Danke.«
» Können wir kurz reden?«
» Kurz?«, fragte sie, und er hörte den leisen Schmerz in ihrer Stimme.
» Ich weiß doch, wie beschäftigt du bist, Mom.« Er hatte es in seiner Jugend oft genug zu hören bekommen: Nicht jetzt, Jack, ich hab zu tun. Ja, Liebling, ich seh mir deine Zeichnung gleich an, Mama ist beschäftigt. Und schließlich: Worüber will die Polizei mit dir sprechen? Ich hab jedenfalls einen Termin beim Botschafter. Einmal, als er neun Jahre alt war, hatte er verkündet, er sei der Botschafter von Kindland, dem Heimatland der Kinder, und sie hatte ihn lachend umarmt und gar nicht begriffen, dass er nur ihre Aufmerksamkeit wollte. Er war stolz auf sich, dass seine Stimme frei von Bitterkeit war.
» Eigentlich hab ich nicht viel zu tun, und es freut mich, dich zu sehen.« Sie beugte sich vor und umarmte ihn linkisch. Das letzte Mal hatte sie ihn umarmt, als er vor zwei Jahren sein Studium an der NYU abgeschlossen hatte. Bevor das FBI anklopfte und ihn suchte. Er widerstand dem Drang, sie so fest an sich zu drücken, dass sie sich nicht mehr losreißen konnte.
Sie legte ihm die Hand auf die Wange. Er hatte Mühe, nicht die Augen zu schließen vor Erleichterung. » Was ist denn passiert? Die Narbe an deinem Hals, bist du operiert worden?«
» Ein Unfall.« Sie haben auf mich geschossen, Mom. Jemand hat auf deinen Sohn geschossen. Doch ihr das zu sagen, brachte er nicht fertig.
» Was für ein Unfall?«
» Ist nicht so wichtig.«
» Aber natürlich ist es wichtig, Jack. Warum hast du nicht angerufen? Wo warst du die ganze Zeit?«
» Das spielt keine Rolle.« Er hielt seine Mutter fest, bis er spürte, wie sie ihre Hände an seinen Rücken drückte.
» Jack, ist alles in Ordnung? Vielleicht sollten wir reingehen.« Ein Hauch von Angst lag in ihrer Stimme.
Er löste sich von ihr und spürte Tränen auf seinem Gesicht, die sich mit den Regentropfen mischten. Es war ihm sehr peinlich. Sie sagte nichts, als er sich die Tränen mit dem Handrücken wegwischte. Ihr Gesicht war trocken, wie immer.
» Bist du gekommen, um dich der Polizei zu stellen?«
Sie war Diplomatin, also gab er eine diplomatische Antwort. » Ja. Ich mag nicht mehr weglaufen und mich verstecken. Aber zuerst wollte ich dich sehen. Bevor ich zur Polizei gehe.« Nein, Mom, ich bin gekommen, um Lebewohl zu sagen, hätte er am liebsten geantwortet. Um mich für immer zu verabschieden. Ich hätte nicht nach New York fliegen sollen. Es tut zu weh.
» Komm doch rein, wir trinken einen Kaffee und rufen den Anwalt an.«
Sie war immer noch genauso praktisch und effizient wie früher, dachte er. » Ich möchte zuerst mit dir sprechen. Nur wir zwei. Bevor wir einen Anwalt anrufen, okay?«
Seine Mutter eilte mit ihm am Portier vorbei, und sie fuhren schweigend mit dem Fahrstuhl zu ihrer Wohnung hinauf. Er wollte ihr ins Gesicht schauen, doch sein Blick blieb auf den tropfenden Regenschirm gerichtet. Jack trat in die Wohnung ein und spürte trotz der frühlingshaften Wärme eine unangenehme innere Kälte. Die Wohnung war so makellos, wie er sie in Erinnerung hatte. Die roten Wände mit ihrer Sammlung chinesischer Kunst geschmückt,
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