Die letzte Minute: Thriller (German Edition)
Gott, vergib mir alles, was ich tue, um meinen Sohn zu retten.
Und lass mich nicht scheitern.
29
Auf dem Highway 206, New Jersey
Der Garden State. Man fragt sich, warum New Jersey diesen Namen trägt, wenn man durch endlose Vorortsiedlungen fährt. Ich raste durch die feuchte Luft, die frisch und klar roch nach dem Regen, der vom Atlantik hereingezogen war.
Das GPS im Wagen ließ ich ausgeschaltet. Falls das Auto bereits als gestohlen gemeldet war, sollten sie mich nicht auf diesem Weg aufspüren können.
Okay. Die Frage war: Wer hatte Leonie und Mrs. Ming? Jacks Mutter hatte jemanden angerufen, worauf der Chauffeur mit der Limousine sie abgeholt hatte. Es war der Special-Projects-Abteilung durchaus zuzutrauen, dass sie sich um Mrs. Ming kümmerten, um sie vor Novem Soles zu schützen. Und es war auch denkbar, dass sie mich anlockten, indem sie vorgaben, Leonies Leben zu bedrohen. Falls sich August in diesem Haus befand, konnte ich immerhin mit ihm reden, und falls er auch Jack Ming geschnappt hatte, ließ er mich vielleicht ein paar Fotos von dem Jungen machen, auf denen er aussah, als wäre er tot.
Aber: Falls August an dieser Operation beteiligt war, hätte mich wohl kaum der Fahrer der Limousine angerufen, sondern August.
Ich machte mir keine großen Hoffnungen, dass Special Projects Leonie in Gewahrsam hatte. Es musste der gefürchtete unbekannte Faktor sein. Ein Feind, über den man nichts wusste.
Das Handy, das mir Anna gegeben hatte, klingelte erneut, als ich zu der angegebenen Adresse abbog. » Ja?«, fragte ich ungeduldig.
» Hallo, Sam.« Anna Tremaine.
» Was gibt’s?«
» Ich möchte wissen, wie die Sache steht.«
» Ich rufe Sie an, sobald der Job erledigt ist.«
» Hat Leonie den Informanten gefunden?«
» Ich rufe an, wenn es erledigt ist«, wiederholte ich kurz angebunden.
» Wissen Sie«, sagte sie, » Sie hätten mal Ihr Baby heute weinen hören müssen. Der Kleine war ziemlich quengelig. Na ja, die beiden Kinder sind einfach unglücklich. Was meinen Sie: Haben die Kleinen ein Gespür für ihre… prekäre Situation?«
Ich weiß nicht, wie ich die Dunkelheit beschreiben soll, die sich über mein Herz legte. Ich habe einfach keine Worte dafür. Es war tiefste Finsternis. Nicht in meinen schlimmsten Momenten hatte ich so etwas empfunden, nicht als ich meinen Bruder auf einem verwackelten Video sterben sah, als meine Frau vor einem explodierten Haus entführt wurde, als mich die Company einen Verräter nannte und mit Waterboarding folterte, weil ich ihnen nicht die Dinge gestand, die ich nicht getan hatte. Schwarze Stunden hatte es genug gegeben. Doch das hier war schlimmer. Ich musste meine ganze Willenskraft aufbieten, um gleichmäßig zu atmen. » Ich tu, was Sie von mir verlangt haben. Tun Sie ihm nichts. Lassen Sie die Kinder in Ruhe.«
» Aber der Job ist noch nicht erledigt, und Sie wollen mir nicht sagen, was los ist.« Sie seufzte. » Ich spiele gerade mit seinen kleinen Fingern, Sam. Sie sind zerbrechlicher als feinstes Porzellan.«
Ich berichtete ihr kurz, was ich wusste und was ich tat. Sie schwieg für einige Augenblicke.
» Hören Sie, Sam«, sagte sie schließlich. » Hören Sie Ihrem Sohn zu. Ich halte ihm das Handy hin.« Und ich hörte zischendes Atmen und ein leises Glucksen. Mein Sohn. Ich hatte ihn noch nie gehört. Ein leises Ahhhh, wie Babys es von sich geben, fröhliches zahnloses Gemurmel.
Dann ein ersticktes, frustriertes Gurgeln: Irgendetwas störte ihn. Vielleicht war ihm langweilig, oder es war das Telefon an seinem Gesicht.
» Daniel. Daniel, hier ist Daddy.« Als würde er mich verstehen. Als würde er meine Stimme erkennen. Mein leiser Bariton war ihm genauso fremd wie irgendein anderes Geräusch. Meine Worte, meine Stimme konnten ihn nicht trösten. Ich hatte mir nie überlegt, was ich zu ihm sagen würde: Er war ein Baby, was begriff er schon? Ich hatte auch nie mit Babys zu tun gehabt. Von uns Brüdern war ich der Jüngere gewesen. » Daniel. Hier ist Daddy. Ich komm und hol dich nach Hause.«
Er zeterte und fing an zu weinen. Vielleicht wollte er, dass Anna ihn wieder hochnahm. Er wollte zu Anna. Die Vorstellung war so widerlich. Er wollte zu einer Frau, die ihm wehtun würde, ohne mit der Wimper zu zucken. Das war wahre Unschuld.
» Ich bin bald bei dir, okay? Ich bin’s, Daddy. Ich hab dich lieb, Daniel. Ich hab dich lieb.« Das war die Wahrheit. Ich liebte ihn, ohne ihn je gesehen zu haben. » Ich hab dich lieb. Ich…«
» Okay, Sam«,
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