Die letzte Odyssee
optische Leitung senden könnten. Ich weiß, daß du imstande bist, Gegenstände per Fernsteuerung zu bewegen: hast du nicht einst eine Bombe in der Umlaufbahn gezündet? Würdest du das Täfelchen nach Europa bringen? Wir könnten es auch per Autokurier an jede Stelle schicken, die du uns angibst.«
»Das wäre am besten: ich werde es in Tsienville abholen. Hier sind die Koordinaten …«
Poole saß immer noch erschöpft in seinem Sessel, als der Monitor der Bowman-Suite den Leiter der Delegation einließ, die ihn von der Erde hierher begleitet hatte. Ob Colonel Jones ein echter Colonel war – und ob er wirklich Jones hieß – war nebensächlich und interessierte Poole nicht weiter. Ihm genügte, daß der Mann ein Organisationstalent war und den Ablauf von Operation DAMOKLES professionell koordiniert hatte.
»Das Täfelchen ist unterwegs, Frank. Wird in einer Stunde und zehn Minuten abgesetzt. Ich nehme an, daß HALman imstande ist, es abzuholen, aber wie er es handhaben will – wenn man so sagen kann – ist mir, ehrlich gesagt, nicht so recht klar.«
»Ich habe es auch erst begriffen, als jemand vom Europa-Komitee es mir erklärt hat. Es gibt ein – mir allerdings nicht – bekanntes Theorem, das besagt, daß jeder Computer jeden anderen Computer emulieren kann. HAL wird also schon wissen, was er tut. Sonst hätte er niemals eingewilligt.«
»Hoffentlich haben Sie recht« gab der Colonel zurück. »Wenn nicht – nun, dann weiß auch ich mir keinen Rat mehr.«
Beide versanken in düsteren Gedanken, bis Poole versuchte, die Spannung zu lösen.
»Haben Sie schon das neueste Gerücht gehört, das über unseren Besuch in Umlauf ist?«
»Welches meinen Sie?«
»Wir sind eine Sonderkommission und haben den Auftrag, uns über die Kriminalitäts- und Korruptionsrate in dieser unzivilisierten Grenzregion zu informieren. Der Bürgermeister und der Sheriff stehen angeblich Todesängste aus.«
»Wie ich die beiden beneide«, seufzte Colonel Jones. »Es muß doch herrlich sein, sich wegen solcher Bagatellen Sorgen machen zu können.«
39
Gott ist tot
Dr. Theodor Khan wurde wie alle (derzeit 56521) Bewohner von Anubis City kurz nach Mitternacht Ortszeit vom Heulen sämtlicher Alarmanlagen geweckt. »Um Deus’ willen, nicht schon wieder ein Eisbeben!« war seine erste Reaktion. Er stürzte ans Fenster und schrie so laut: »Öffnen!«, daß ihn der Raum nicht verstand und er den Befehl in normalem Ton wiederholen mußte. Eigentlich hätte jetzt Luzifers Licht ins Zimmer strömen und die typischen Muster auf den Boden zeichnen müssen, von denen alle Besucher von der Erde so fasziniert waren, weil sie sich, ganz gleich, wie lange man wartete, um keinen Millimeter bewegten …
Der stete Lichtstrahl war nicht mehr da. Khan starrte fassungslos durch die riesige Blase der Anubiskuppel nach oben. Darüber spannte sich ein Himmel voll funkelnder Sterne, wie ihn Ganymed seit tausend Jahren nicht mehr erlebt hatte. Luzifer war verschwunden.
Khan war noch dabei, sich die längst vergessenen Sternbilder ins Gedächtnis zu rufen, als er etwas bemerkte, das ihn noch mehr erschreckte. Wo sonst Luzifer gestanden hatte, verdeckte eine winzige, tiefschwarze Scheibe die fremd gewordenen Sterne.
Dafür gibt es nur eine Erklärung, dachte Khan. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Luzifer war von einem Schwarzen Loch verschlungen worden. Und wir sind vielleicht die nächsten.
Poole beobachtete das Schauspiel vom Balkon des Hotels Grannymed aus mit sehr viel gemischteren Gefühlen. Noch vor den Alarmanlagen hatte ihn sein Kommunikator mit einer Botschaft von HALman geweckt.
»Der Anfang ist gemacht. Wir haben den Monolithen infiziert. Aber eins – oder mehrere – von den Viren sind auch in unsere Schaltkreise eingedrungen. Wir sind nicht sicher, ob wir das Speichertäfelchen, das du uns gegeben hast, noch benützen können. Falls es gelingt, treffen wir uns in Tsienville.«
Und dann folgte ein überraschender und seltsam bewegender Satz, über dessen emotionalen Gehalt man sich noch viele Generationen lang streiten sollte:
»Falls ein Herunterladen nicht mehr möglich ist, vergeßt uns nicht.«
Aus dem Nebenzimmer hörte Poole, wie sich der Bürgermeister nach Kräften bemühte, die aufgeschreckten Bürger von Anubis City zu beschwichtigen. Obwohl er seine Ansprache mit der schlimmsten Wendung begann, die er in dieser Situation überhaupt wählen konnte – »Es besteht kein Grund zur Beunruhigung« – hatte er doch
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