Die letzte Offenbarung
zieht es vor, sich als Irin zu bezeichnen. Mein Vater dagegen«, sie schüttelte den Kopf, »war ein Mann Salvador Allendes. Er war Soldat, ganz anders als meine Mutter. Die war Hippie, du weißt schon, damals, begeistert von ihren Ideen. Sie waren sehr unterschiedlich, doch irgendwie hatten sie dieselben Träume.« Rebecca sah aus dem Fenster auf die Höhenzüge, die sich am Horizont abzeichneten.
»Das ist der Spessart«, bemerkte Amadeo.
»Meine Mutter hat einen Doktorgrad in englischer Philologie, mein Vater hat in seinem Leben ganze vier Bücher besessen, und in allen waren Bilder von Motorrädern drin.« Sie lächelte, und aus irgendeinem Grunde betrachtete sie Amadeo mit besonderer Zärtlichkeit. »Doch sie hatten beide ihre Träume und haben nie daran gezweifelt. Sie haben in Chile gekämpft und Widerstand gegen die Junta geleistet, bis mein Vater eines Tages...« Sie schüttelte den Kopf. »Er kam nicht mehr zurück. Damals war ich elf Jahre alt, und ich wusste längst, worum es ging. Wir haben dann weitergemacht: meine Mutter, unsere Freunde, zuerst in Chile, später anderswo in Lateinamerika. Überall und nirgends.«
»Da bist du aufgewachsen? Überall und nirgends?«
Sie hob die Schultern. »Ich bin jedenfalls groß geworden.«
»Und ich dachte, es wäre der Mossad«, murmelte er.
»Was?« Sie kicherte.
»Der Mossad«, sagte er ernst. »Der israelische Geheimdienst.«
»Wie kommst du denn auf so was?« Jetzt war sie wirklich erstaunt.
»Na ja.« Er setzte zum Überholen an, der BMW war für die linke Spur gebaut. »Da ist zum einen der Name. Du wirst zugeben...«
»Er klingt jüdisch«, bestätigte sie, »stimmt. Die Frau, von der ich den Namen Rebecca habe, eine Freundin meiner Mutter, war auch Jüdin. Aber Steinmann ist einfach nur ein deutscher Name. Das war alles?«
Er verneinte. »Die Johannes-Geschichte. Wenn nicht der Vatikan dahintersteckt, wer sollte sonst noch Interesse daran haben?«
Sie lächelte kaum sichtbar. »Ein interessanter Gedanke. Ob das...«
»Du meinst Niketas?«, fragte er. »Nein, das glaube ich nicht. Er und seine Männer kommen sicher irgendwo aus dem Mittelmeerraum. Nur ein hebräischer Akzent klingt einfach anders. Allerdings weißt du selbst, dass die jüdischen Einwanderer...«
»Aus aller Herren Länder stammen«, vollendete sie den Satz.
»Eben. Außerdem hat er am Kloster aus dem Johannesevangelium zitiert. Warum sollte er das tun als Jude?«
»Auch wieder wahr.«
»Du weißt also wirklich nicht, wer sie sind?« Er sah sie fragend an.
»Nein, ich weiß es nicht«, sagte sie, und er spürte, dass es die Wahrheit war. »Ich hatte noch nie mit ihnen zu tun, und auch meine Kontaktleute wissen nichts.« Sie hielt kurz inne. »Zumindest nicht mit Sicherheit«, schränkte sie ein.
»Aber sie ahnen etwas?«
»Ja«, sagte sie, auf einmal wieder kurz angebunden, und es war deutlich, dass sie dieses Thema nicht vertiefen wollte — vermutlich nicht vertiefen durfte . »Du, ich glaube, der Passat da vorne ist nicht ganz so schnell wie wir.«
Amadeo trat so heftig auf die Bremse, dass der Fahrer hinter ihnen heftig zu hupen begann.
»Denken alle, sie sind allein auf der Straße«, brummte er.
»Anwesende natürlich ausgeschlossen«, sagte sie.
»Wir beide sind absolut vorbildliche Fahrer«, erwiderte er mit betont ernster Miene.
Sie lächelte ihn an, und dieses Lächeln war von einer Art, dass er sich einfach wünschte, sie festzuhalten. Diesen Augenblick festzuhalten. Hier, neben ihr in diesem Wagen, von dem er nicht wusste, woher er kam. Fast so, wie er es auch von ihr noch immer nicht zu wissen schien, obwohl sie ihm gerade ihre Familiengeschichte erzählt hatte. Eine wilde Geschichte wie aus einem Märchen. Ein wildes, unglaubliches Geschöpf, das da in sein Leben getreten war.
»Was wirst du machen, wenn das hier vorbei ist?«, fragte er. »Wo wirst du leben? Wo lebst du jetzt? Überall und nirgends?«
Er sah sie an und spürte, wie sein Herz zu pochen begann. Er wartete auf ihre Antwort, und tatsächlich schien sie sich Zeit zu lassen damit.
Schließlich holte sie tief Luft und sagte: »Überall und nirgends.«
LVII
Der Wagen war ein Traum.
Irgendwo zwischen Frankfurt und Würzburg war Rebecca eingeschlafen. Amadeo hätte sie nach ein oder zwei Stunden wecken sollen, so war es vereinbart, doch er sah den Asphalt nur so dahinfliegen unter dem stählernen Leib des Wagens und verfolgte den Kilometerzähler in nimmermüder Umdrehung wie ein Mühlrad an
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