Die letzte Offenbarung
Rückenfalz zu spähen. Er sah sich im Raum um, ob ihm eine der Apparaturen helfen konnte. In einer gut ausgestatteten officina ließ ein Buch sich röntgen wie ein kranker Patient, aber hier gab es diese Möglichkeit nicht. Amadeo zögerte einen Augenblick, dann setzte er sein Lanzettmesser an und trennte den Falz mit einem sauberen Schnitt auf.
Nichts.
Der Buchrücken war leer.
Pergamentfetzen, lose Enden der Bindung, die sich aus dem Leim gelöst hatten — das war alles.
»Unmöglich«, flüsterte er. Er tastete die Deckel des Codex ab. Vielleicht war der Rücken des Bändchens zu schmal gewesen, als dass sich die Papyri dort verbergen ließen. Nein. Nein, auch dort war nichts.
Sprachlos starrte er die zerstörte Handschrift an.
Wieder klopfte es.
»Bitte komm rein«, murmelte er und drehte sich auf dem Stuhl zur Tür um. »Wir haben...«
Zwei Tassen mit dampfendem italienischen caffè .
Doch nicht Rebecca balancierte sie in den Händen.
Amadeo kannte das Gesicht. Kannte die leicht vornübergebeugte Gestalt in der schneeweißen Soutane. Kannte das milde, leicht verlegene Lächeln, mit dem der Mann ihn bat: »Würden Sie mir eine der Tassen abnehmen, bitte? Dann kann ich die Tür schließen.«
Amadeo sah, wie sich die Augen von Pedro De la Rosa, pontifice Pio XIV. in Sorge weiteten, dann trat ein Schleier vor seinen eigenen Blick.
Wie in Zeitlupe kam der gepflegte, helle Teppichboden auf Amadeo zu. Er sank in die Arme der Ohnmacht, bevor er ihn berührte.
LXXIV
»Geht es wieder?«
Die Worte kamen wie durch eine dicke Packung Watte, die Amadeos Kopf umhüllte. Genau so fühlte sich auch sein Mund an: wie mit Watte ausgestopft.
»Nehmen Sie einen Schluck. Das wird helfen.« Die Stimme... Der commandante . Jetzt fiel es Amadeo wieder ein.
»Ich helfe dir.« Das war Rebecca.
Er spürte ihre Hände unter seinem Nacken, als sie seinen Kopf in die Höhe brachte. Im nächsten Augenblick stieg ihm das Aroma von dampfendem caffè in die Nase, und der Rand der Tasse berührte seine Lippen. Gehorsam trank er — und verzog das Gesicht.
»Es sind ein paar Stücke Zucker drin«, sagte sie entschuldigend. »Dann geht er schneller ins Blut.«
Die Brühe schmeckte widerwärtig. Amadeo kniff ein paar Mal die Augen zusammen und versuchte seinen Blick wieder klar zu bekommen.
Vor ihm Rebeccas Gesicht, noch immer ein wenig verschwommen, an ihrer Seite der commandante , jetzt wieder als Priester gekleidet, und zwischen den beiden, auf einem der Arbeitsstühle, der Mann in der schneeweißen Soutane.
Amadeo keuchte und verschluckte sich an seinem caffè . Rebecca nahm die Tasse fort und stützte Amadeo, bis der Hustenanfall nachließ.
»Kannst du aufstehen?«, fragte sie.
Er schloss die Augen, nickte stumm und ließ sich von ihr auf einen Stuhl helfen. Noch immer war ihm schwindlig vor Schwäche, aber da waren so viele andere Gefühle: Verwirrung, Wut, Angst und — stärker als alles andere — Enttäuschung.
Er öffnete die Augen und sah Rebecca an. »Du hast mich angelogen«, flüsterte er.
»Nein.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein!« Doch das schlechte Gewissen sprach aus ihrem Blick, Reue, mehr als das: Schmerz. »Ich... Bitte, ich wollte nicht, dass du es so erfährst, auf diese Weise. Lass es mich erklären!«
»Nein, Rebecca«, unterbrach sie eine sanfte Stimme. »Ich möchte es ihm erklären«, sagte Pio XIV. »Ich denke, das kann er von mir erwarten.«
»Was wollen Sie mir erklären?«, murmelte Amadeo. »Warum Sie mit mir Katz und Maus gespielt haben? Sie hätten das so viel einfacher haben können.«
»Hören Sie mir einfach in Ruhe zu«, bat der alte Mann.
Der alte Mann...
Es geht um den alten Mann... Man hat auf ihn geschossen . Amadeo starrte das Oberhaupt der katholischen Christenheit an. Er wird selbst mit dir sprechen , hatte Rebecca gesagt. Er hat uns ausgebildet, den commandante und mich, und als mein Vater damals nicht zurückkehrte, war er... Er ist ein guter Mann, Amadeo .
Pio XIV., ehemals Kardinal Pedro De la Rosa aus Venezuela, ein Befreiungstheologe aus Venezuela, Südamerika.
Reglos wartete Amadeo, dass de la Rosa mit seiner Geschichte begann.
»Zunächst einmal...« Der Mann in der schneeweißen Soutane blickte auf den Tisch, als suche er etwas. »Meine Tasche?«, fragte er. »Duarte?«
Der commandante nickte und verließ den Raum. Amadeos Blick folgte ihm. Duarte, das also war sein Name.
»Zunächst einmal sollten Sie wissen, dass wir sozusagen Kollegen sind«,
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