Die letzte Praline
noch weit entfernt.
Er beschloss, in die einzige Ecke zu schauen, in der keine Säcke Tulpenzwiebeln gestapelt waren, und über das zweite Verbrechen nachzudenken. Ein als aztekischer Jaguarkrieger verkleideter Mann hatte Jana Elisa da Costa niedergeschlagen, hatte vielleicht sogar versucht, sie zu töten, und hatte mittels einer Lego-Konstruktion dafür gesorgt, dass Jaguarfellimitatstücke – was für ein Wort! – auf die Chocolatiers herunterfielen. Klang wie Karneval in Köln, war aber tödlicher Ernst. Die Aktion war eine Drohung, so viel war klar. Nur für wen? Jana Elisa da Costa hatte ihm gesagt, sie habe keine Feinde. Und wenn es eine Drohung war, was wollte der Jaguarkrieger erreichen? Man drohte doch nur, um jemanden einzuschüchtern. Und man schüchterte ein, damit sich der andere auf eine bestimmte Art verhielt. Und noch eine Frage war wichtig: Stand der Jaguarkrieger in Verbindung mit dem Mord an Beatrice Reekmans? Bei der Leiche in Schokolade hatte es allerdings keine Indizien gegeben, die auf ihn hinwiesen.
Bietigheim mochte so viele Fragen nicht, Antworten waren ihm deutlich lieber.
Immer noch nicht Mitternacht.
Egal.
Er hielt es nicht mehr aus.
Es würde schon keiner in der Gerichtsmedizin sein. Schließlich war dies öffentlicher Dienst. Als er sich erhob, knackten seine Gelenke lauter als wenig später die schräg in den Angeln hängende Holztür. Er klopfte den Staub aus seinem Maßanzug. Der Generalschlüssel lag, wie ihm sein Informant, der Kriminalpolizist Degroof, gesagt hatte, unter einem losen Ziegel des Vordachs. Gebeugt und gefolgt von Benno, schlich er mit diesem durch den vom Hausmeister angelegten Gemüsegarten zur Kellertür. Der Schlüssel passte. Bietigheim entnahm seiner Sakkotasche einen Stift, dessen hinteres Ende gleichzeitig als Taschenlampe fungierte. Als er sie einschaltete, fühlte er sich wie ein Geheimagent. Gar kein so schlechtes Gefühl!
Die Räumlichkeiten waren vorschriftsmäßig ausgeschildert und der Leichensaal der Gerichtsmedizin nur wenige Schritte entfernt.
Der Schlüssel glitt auch hier wie geschmiert ins Schloss, welches sich angenehm leise öffnen ließ. Dahinter war es geradezu klinisch rein. Bietigheim fühlte sich verpflichtet, die neben der Tür bereitliegenden Plastikschoner über seine Schuhe zu ziehen und Benno an der Tür anzuleinen – was diesem gar nicht gefiel. Doch in diesem pathologischen Institut arbeitete zweifellos ein Mann ganz nach seinem Geschmack, man spürte einfach, wie strukturiert alles war. Selbst die drei Leichen, die sich auf parallelen Arbeitstischen befanden, lagen äußerst ordentlich unter ihren Tüchern, welche zu allen Seiten gleich lang herunterhingen. Und es gab nirgendwo Tinnef, private Bilder oder Postkarten.
Als Adalbert in der Mitte des Raumes angekommen war, trat aus dem Schatten im hinteren Teil des Raumes ein Schemen, kam rasch näher und stellte sich als Mann heraus, der einen weißen Kittel trug und eine Hornbrille, die aussah, als stamme sie aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Und zwar nicht der letzten. Der Unterschied zwischen dem Hornbrillenmann und den Leichen war marginal. Sowohl bezüglich der Hautfarbe als auch des Gesichtsausdrucks. Er hätte für einen Vampirfilm nicht extra geschminkt werden müssen. So groß und hager, wie er war, hätte es Bietigheim nicht gewundert, wenn er den Mund geöffnet und spitze Eckzähne zum Vorschein gekommen wären.
Bietigheim fühlte sich, als führe jemand mit eiskalten Fingerspitzen sein Rückgrat entlang.
»Professor Bietigheim, nehme ich an«, sagte der Untote und blickte ihn mit kalten Augen an. »Ich habe mit Ihrem Besuch gerechnet, seit ich weiß, dass Sie in der Stadt sind.«
Der Bann war gebrochen. Doch nur ein Mensch. Wenn auch ein merkwürdiger.
»Es scheint, mein Ruf eilt mir voraus. Nun ja, so sollte es auch sein. Professor Dr. Dr. Bietigheim, angenehm.« Er verneigte sich leicht.
»Professor Dr. Dr. Dr. Ceulemans.« Keine Verbeugung.
Was für ein unangenehmer Kerl, so dermaßen mit seinen Titeln zu prahlen! Bietigheim machte sich eine mentale Notiz, umgehend dafür zu sorgen, dass er schnell einen Dr. h.c. zugesprochen bekam oder, besser noch: zwei. Dann würde ihm solch ein peinlicher Moment nicht nochmals widerfahren.
»Sie sind wegen Beatrice Reekmans hier«, sagte Ceulemans mit sonorer Stimme.
»So ist es. Sie arbeiten übrigens bemerkenswert lang.«
»Mir wird nachgesagt, dass ich hier lebe und in einem der
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