Die letzte Prophezeiung: Thriller (German Edition)
Sorgen. Die Alpträume hören nicht auf.
Seit dem Tag der Vision erscheint mir jede Nacht der Apostel Johannes im Traum. Er trägt ein weißes Gewand und hat das Antlitz der Jungfrau Maria. Er lächelt, spricht aber kein Wort, und er nimmt mich mit hinauf in die Wolken, bis in die Höhle der Sanduhren. Und ich sehe wieder den Drachen. Nackt steigt er hinab, und im Traum folge ich ihm Schritt für Schritt, er aber sieht mich nicht. Er öffnet die Truhe, greift nach der Schriftrolle und liest die Prophezeiung. Dann legt er sie wieder zurück und entnimmt der Truhe eine kleine Ampulle voll schwarzen Pulvers. Diese zerschlägt er auf der hölzernen Kante, und sofort steigt eine Stichflamme auf. Die Schriftrolle verbrennt im Nu und zerfällt zu Asche, aber die auflodernde Flamme kommt nicht dazu, auf das Holz überzugreifen. Also schließt der Drache die Truhe, und mit satanischem Grinsen steigt er wieder die Stufen hoch, zum Erzengel. Dann bringt der Apostel mich fort, und ich erwache zitternd.
Es ist ein merkwürdiger Traum, und ich weiß nicht, ob es sich um ein göttliches Zeichen oder eine Botschaft des Satans handelt. Manchmal frage ich mich, ob es nicht nur ein Fieberdelirium ist, wegen dieser Schwüle, in der wir ersticken. Ich würde mich gerne der Mutter Oberin öffnen, aber sie kommt mir derzeit so besorgt und leidend vor. Ich fürchte sie mit meinen Phantasien zu beunruhigen,
und dann könnte sie denken, dass ich mir etwas zusammenspinne, und mich, zu meinem Wohl, bestrafen. Diese Visionen sind jedoch belastend, eine Qual. Ich schütte dem lieben Gott und dir mein Herz aus: Gib mir einen Rat, Mama, ich bitte dich.
Ich warte auf Deine Antwort. Bitte, schreib mir sofort, lass mich nicht allein.
Das lag nicht am Fieber, dachte Mutter Valeria erschaudernd. Der theologische Verweis auf die Affinität zwischen Maria und dem Apostel ließ keinen Zweifel. Dies war ein Mysterium des Glaubens, von dem ihr ein alter Franziskaner gesprochen hatte, und allein Leonardo hatte eine Spur davon in die profane Sphäre getragen: mit seinem Gemälde
Das letzte Abendmahl
, wo man das zarte Gesicht der
Felsgrottenmadonna
in den Zügen des Johannes, der zu Jesu Rechten sitzt, erkennt.
Folglich hatte es wirklich den Anschein, als sei die Schriftrolle des Orients für immer vernichtet. Auch ihre letzte Hoffnung, die Vorahnungen der Novizin könnten reiner Zufall sein, war jetzt, angesichts des Briefes, zunichte. Nur noch sie, der nur mehr wenige Monate zu leben blieben, war übrig, um die Prophezeiung zu schützen, und sie konnte nichts tun, nur abwarten.
Sie fragte sich, ob der Meister die Zeit gehabt habe, für einen Nachfolger zu sorgen. Wenn sein Nachfolger mit dem Schlüssel nicht bis zur nächsten Sonnenwende bei ihr einträfe, dann würde auch die Schriftrolle des Okzidents vernichtet. Es blieben weniger als sechs Monate, dann könnte nichts den gnadenlosen Mechanismus des Vetruvianus mehr aufhalten. Trotz der drückenden Schwüle befiel sie eine Art Schüttelfrost. Sie schob den Brief sorgfältig in den Umschlag zurück, dann überlegte sie einen Moment, ob sie ihn vernichten sollte oder nicht. Sie dachte jedoch, dass er harmlos sei. Niemandwäre in der Lage, ihn zu interpretieren. Sie nahm den Kleber und verschloss das Kuvert wieder, dann ging sie vorsichtig hinaus in den Flur, um den Brief zurück in den Postausgang zu legen.
Schließlich kehrte sie in ihre Zelle zurück und löschte die Öllampe. All diese Aufregung verstärkte noch die Last der Krankheit, und nun fühlte sie sich vollkommen ausgelaugt. Nur ein fahler Lichtschein, der durch das Fenster drang, geleitete sie zu der Betbank. Sie stürzte fast darauf und begann mit allerletzter Kraft zu beten.
44
Ort: Turin
Weltzeit: Samstag, 27. Juni, 00.53 Uhr (GMT)
Ortszeit: 2.53 Uhr
Es hatte über fünf Stunden gedauert, die fast achttausend Buchstaben zu transkribieren, aus denen Moltenis Brief bestand. Erschöpft reichte Alanna Liam das Notizbuch.
»Mach’s dir bequem, ich lese ihn dir vor«, sagte er sanft.
Alanna setzte sich auf eines der beiden Betten, Liam genau gegenüber, welcher mit der Lektüre begann.
»
Lieber Liam,
wenn Du diese Zeilen liest – und das wird bald sein, fürchte ich –, werde ich nicht mehr unter den Lebenden weilen.
Ich habe Dir, gemeinsam mit meinem Testament, das eiserne Chrismon und die beiden Dokumente anvertraut. Aus dem Protokoll des Ossius, des ersten Meisters des Buches, wirst du ersehen haben, dass
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