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Die letzte Reifung

Die letzte Reifung

Titel: Die letzte Reifung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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gehen«, raunte er Pit zu. »Sofort!«
    Das Rascheln hörte auf, das Schnaufen ebenso, die schweren Schritte jedoch kamen näher.
    Der Professor zog Pit an der Schulter. Doch genauso gut hätte er versuchen können, einen Andengipfel zu bewegen.
    »Angriff ist die beste Verteidigung«, sagte Pit.
    Dann trat er in den Reifekeller. Das heißt, er sprang in den Reifekeller, brüllend und mit erhobenen Fäusten.
    Bietigheim hielt dies für keine gute Idee.
    Wäre er jetzt im Reifekeller, und ein Monster wie Pit tauchte plötzlich auf, würde er entweder einen Herzinfarkt erleiden oder das Nächstbeste nach ihm werfen. Selbst wenn es ein Käse wäre.
    Erstaunlicherweise sah das der Einbrecher genauso.
    Doch warum nur einen Käse werfen, wenn ein ganzes Holzbrett davon in Reichweite steht?
    Es klatschte, als die hoch reifen Rotschmierkäse in Pits Gesicht zerplatzten. Und es krachte, als das schwere Brett auf den Boden fiel.
    Dann drückte sich der Schatten ruppig an Pit vorbei, raste durch die Käserei und hinaus in die Dunkelheit. Einen Korb, gefüllt mit Madame Poincarés Käsen, hielt er fest an sich gedrückt.
    Bietigheim würde später behaupten, es sei seine äußerst vorsichtige und besonnene Wesensart gewesen, die ihn davon abgehalten hatte, den Mann anzugreifen.
    Pit war eher der Meinung, der Professor habe sich feige in der hintersten Ecke hinter dem Sofa verkrochen, anstatt ihm zu Hilfe zu eilen.
    Doch immerhin war er mutig genug gewesen, die Augen offen zu halten. Und so hatte er zu seiner großen Überraschung den Käsedieb erkennen können.
    Es war der alte Gérard.
    Die »Hanseatische Gesellschaft zur Förderung der internationalen Käsekultur sowie verwandter Milchprodukte insbesondere Magerquark, Molke und Joghurt« war eine Institution. Es handelte sich um eine Vereinigung mit viel altem Geld, zu dem sich ganz nach Hamburger Tradition gern junges hinzugesellte. Die wohlhabenden Mitglieder leisteten sich in diesem Jahr einen Ausflug ins Burgund, dessen Höhepunkt ein Besuch der berühmten Hospices Civils aus dem fünfzehnten Jahrhundert in Beaune war, berühmt durch ihre vielfarbigen Dächer, die auf keiner Postkarte der Region fehlen durften. Nach einer Führung durch das Museum im Hôtel-Dieu sah das Programm einen Vortrag im prachtvollen Königssaal vor. Referent in Sachen lokale Käsespezialitäten war selbstverständlich die Koryphäe des gelben Goldes: Ehrenmitglied Professor Dr. Dr. Adalbert Bietigheim. Der Hochverehrte – er trug zur Feier des Tages die ihm erst kürzlich von der Krimpenerwaard verliehene goldene Gouda-Medaille am Band – hatte sich bereits im Museum zur Gruppe gesellt. Zu seinem größten Bedauern war Hildegard von Trömmsen nicht mit dabei, die Frau, für die er in einer schwachen Stunde gar einen Liebesbrief verfasst, ihn jedoch niemals abgesandt hatte. Sie ließ sich wegen einer leichten Erkältung entschuldigen. Bietigheim versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen, während er eine schiere Ewigkeit vor dem Prunkstück des Museums verbrachte, dem Polyptychon des Jüngsten Gerichts, einem Meisterwerk des flämischen Kunstmalers Rogier van der Weyden.
    »Herr Professor, wir müssten dann.«
    Der Schatzmeister der Gesellschaft, ein Mann, dessen Haarwuchs sich komplett auf seine Ohren konzentrierte, stand leicht gebeugt neben ihm. »Alle sind schon sehr erwartungsfroh.«
    Bietigheim atmete tief durch und machte sich auf den Weg. Als er im Saal mit seinem beeindruckenden Kronleuchter eintraf, saßen bereits alle auf ihren Plätzen und tuschelten miteinander. Nachdem er seinen Vortragstext im perfekten Winkel zur Pultkante ausgerichtet hatte, begann er mit einem kurzen Räusperer.
    »Sehr geehrte Käsesüchtige!« Dieser kleine Scherz brachte das Publikum stets zum Lächeln. So auch heute. »Ich sehe es an manchem prall gefüllten Ränzlein, Sie haben bereits einige der kalorienhaltigen Gaumenfreuden des Burgunds genießen dürfen. Bœuf Bourguignon, das geduldig mit gutem Rotwein und Gemüsen geschmorte Rindfleisch, Poulet à la Crème, das Hühnchen in Sahnesauce. Gerichte, bei deren Erwähnung man sich unwillkürlich die Lippen leckt. Ich persönlich ziehe dennoch Lapin à la Moutarde, das Kaninchen in Dijon-Senfsauce vor – vor allem, wenn ich als Aperitif einen Kir aus Aligoté und Cassis genießen durfte. Gerne würde ich Ihnen über die kulturhistorische Bedeutung von Jambon Persillé oder Escargots de Bourgogne erzählen – doch was sind Schinken in Aspik und

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