Die letzte Reifung
das von dem hohen Holzzaun abgetrennte Feld. Er wollte auf keinen Fall, dass Pit und Jan dorthinein gingen.
Deshalb mussten sie genau das tun.
Pit drückte Gérard bestimmt zur Seite. Er leistete nur kurz Widerstand.
Hinter dem Zaun erwartete sie eine Überraschung.
Kein Käse. Kein Hanf. Kein Tierzwinger. Keine Goldschätze, Perlen oder Gelddruckmaschinen.
»Streichhölzer«, stutzte Jan.
»Tausende«, ergänzte Pit.
»Ist das das Taj Mahal?«
Gérard nickte.
»Und das da Notre-Dame?« In Jans Stimme klang Bewunderung mit.
Gérard stellte sich stolz vor den Nachbau der berühmten Pariser Kirche. »Eines meiner ersten Kunstwerke.«
Über den mannshohen Streichholz-Modellen spannte sich schützend eine große Plastikplane. Staunend betrachteten Pit und Jan die Bauten aus nächster Nähe. Den Eiffelturm, die Freiheitsstatue, den Kölner Dom, die Pyramiden. Und vor allem das anscheinend neueste, noch unvollendete Werk: Madame Poincaré, die auf einem riesigen Epoigey saß.
»Du bist … ein echter Künstler«, sagte Pit. »Warum versteckst du deine Bauten hier? Die sollte doch jeder sehen.«
Gérard schüttelte entschieden den Kopf. »Das geht keinen was an. Wagen Sie es ja nicht, Fotos zu schießen!«
Jan senkte seine Kamera, die er ganz automatisch gezückt hatte.
Pit bewunderte derweil das große handwerkliche Können des Bauern. Es war unglaublich, welch diffizile Arbeit er mit seinen großen, schwieligen Pranken vollführt hatte. Die kleinen Bögen der Kirche, die Querstreben des Eiffelturms, die Grübchen in Madame Poincarés Gesicht. Alles bis ins Detail perfekt. Pit legte seine Hand auf Gérards Schulter. Dieser zuckte kurz zusammen, doch Pit meinte es als Geste der Freundschaft.
»Wer hat die Käserin umgebracht?«, fragte er im nächsten Atemzug erneut.
»Ich weiß es nicht. Und wer bin ich, jemanden zu verdächtigen? Nur ein dummer, alter Mann, der Käse stiehlt wie ein Verbrecher.«
»Wer?«, fragte Pit.
Langsam trat Gérard vor die Statue Madame Poincarés. »Es gibt Streit wegen des Erbes. Eine ausgewanderte Cousine ist verärgert.«
»Warum?«
»Weil Benoit alles bekommen soll. Darum. Das Haus, die Käserei, den Namen, fruchtbaren Boden, die Kühe. Aber Benoit hätte ihr nie was angetan, der ist ein guter Junge.«
»Und ein einfacher Landpolizist mit wenig Kohle, oder?«
Bevor Gérard antworten konnte, klingelte Jans Handy. Er entfernte sich einige Schritte, um zu telefonieren, kam aber schon nach kurzer Zeit zurück.
Er sah plötzlich sehr ungesund aus.
»Das war der Lokalchef meiner Zeitung. Ich muss ganz dringend nach Dijon. Es ist nicht einmal mehr Zeit, dass ich nach Nuits Saint Georges fahre, um ein paar Fotos des Weinguts zu schießen.«
»Und deswegen bist du so blass?« Pit nahm ihn zur Seite.
»Nein, nicht deswegen.«
»Du siehst aus, als sei schon wieder jemand gestorben.«
Jan fuhr sich nervös durchs Haar. »Ganz im Gegenteil. Maître fromager affineur Hervé Picard ist wieder aufgetaucht. Ihn soll ich fotografieren. Für den Aufmacher.« Er presste die Lippen aufeinander.
»Da kommt noch was, oder?«, fragte Pit.
Er erntete ein Nicken von Jan. »Monsieur Picard sieht wohl ganz anders aus als vor seinem Verschwinden.«
KAPITEL 6
Der größte Käse Frankreichs
Der Professor sah Jan erst am Frühstückstisch wieder. Er musste dort aber erst nach ihm suchen. Das war Pit anzulasten, der am Morgen jedes Lebensmittel im Supermarkt erstanden hatte, das ihn interessierte. Diverse Frühstücksflocken – der Professor weigerte sich standhaft, sie Cerealien zu nennen –, Marmeladen, Würste, Käse, Süßigkeiten, Gebäck. Sowie einige Packungen, bei denen der Professor trotz der darauf befindlichen Abbildungen nicht sagen konnte, was sie beinhalteten.
Sie alle bildeten ein Mittelgebirge auf dem Küchentisch.
Das war vielleicht auch gut so, denn der Professor musste Jan noch das Gerücht über Béatrice Leroy beibringen. Er würde den richtigen Moment abwarten und erst einmal mit Ruhe und Genuss die Zeitung studieren. Die Hinweise und Spuren der Mordfälle türmten sich in seinem Kopf wie Pits Jagdtrophäen auf dem Tisch, es konnte nicht schaden, die Denkmaschine mit einem ausgiebigen Frühstück und einer großen Tasse Kaffee langsam in Schwung zu bringen. Doch seine Denkmaschine kam nicht langsam in Schwung. Sie wurde durch den Aufmacher des Lokalteils zum absoluten Kaltstart gezwungen. Überraschenderweise war nicht das Käsefest Topthema. Nein, das Topthema
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