Die letzte Reifung
ein.
»Wieso warst du denn überrascht? Saß er im Rollstuhl?«
Jan schüttelte den Kopf.
»War sein Gesicht entstellt?«
»Auch nicht.«
»Liegt er etwa auf der Intensivstation im Koma?«
»Vergiss es, du kommst nicht drauf. Das Überraschende war: Er trug keine roten Schuhe.«
»Ohoho«, johlte Pit. »Na, das ist ja mal ein Ding!«
Der Professor grub einen Tunnel durchs Lebensmittelgebirge, um Pit beim Reden in die Augen blicken zu können. »Wenn Sie dreißig Jahre lang für Ihre maßgeschneiderten roten Lederschuhe bekannt waren, Gerüchten zufolge mit diesen sogar ins Bett gingen, dann schon.«
»Es kommt noch besser«, sagte Jan. »Sein dunkles, volles Haar hat sich in blonde Stoppeln verwandelt. Außerdem trägt er jetzt einen Dreitagebart und ist braun gebrannt. Seine Arbeit als Affineur will er vorerst ruhen lassen, er spricht von einer kreativen Pause, will zu vielen Käsereien reisen, auch ins Ausland, und schauen, welche Betriebe es zu fördern gilt. Neue Namen will er finden, ohne Scheuklappen. Er sei jetzt ein anderer Mensch.«
»Hast du gefragt, warum er mich im Keller eingesperrt hat?«
»Ein Versehen, das ihm sehr leid tut. Er sei total durcheinander gewesen, nachdem du ihn über den Mord informiert hattest, und habe nicht bemerkt, dass die Tür zum Keller hinter ihm ins Schloss gefallen war. Diese hat eine Schließautomatik, aus Sicherheitsgründen. Und dann hat er einfach vergessen, dass du noch da unten warst. Picard hat mir extra Käse für dich mitgegeben, eine ganze Tüte voll, er war wirklich sehr zerknirscht. Ich habe sie in den Kühlschrank gepackt.«
Der Professor stand auf und nahm das Mitbringsel in Augenschein. Die Tüte enthielt nahezu sämtliche Spitzenkäse Frankreichs – und alle auf den Punkt gereift. Teure Ware, doch viel zu wenig für solch eine schwache Ausrede. Er drehte sich wieder zu Jan um.
»Es bleibt trotzdem die Frage, warum er so plötzlich aufgebrochen ist und niemandem gesagt hat, wohin. Wo war er überhaupt in der Zwischenzeit?«
»Bei einem alten Freund an der Loire. Mehr wollte Picard nicht sagen. Und er bestand darauf, dass ich kein Foto von ihm schieße, hat sogar mit seinem Anwalt gedroht. Ich darf auch nicht schreiben, wie er jetzt aussieht. Ja noch nicht einmal, dass er jetzt anders aussieht. Warum, wollte er nicht preisgeben.«
Bietigheim setzte sich wieder. »Männer, wir werden nun frühstücken, und zwar ausgiebig, denn wir brauchen eine gute Grundlage für die Spurensuche. Jan, du gehst, wie bereits besprochen, zu Mademoiselle Leroy. Pit, du überwachst weiter Gérard.«
»Warum? Der ist eigentlich echt nett. Und baut super Streichholzmodelle. Außerdem wollte ich mir heute einen ruhigen Tag machen.«
Ein Blick genügte.
»Gut, ich mach's. Aber dann müssen Sie diese Woche mal kochen.«
Der Professor lächelte, denn nichts war seiner Stimmung zuträglicher als eine Schmeichelei zur rechten Zeit.
Heute Abend würde der Professor sich den Bürgermeister schnappen – doch jetzt ging es erst einmal zum größten Käse Frankreichs. Der stand in Lyon, der Stadt, wo Rhône und Saône zusammenflossen, der Metropole auf den Hügeln, der zerrissenen Schönen. Doch der dort beheimatete riesige in Kunstharz eingegossene Camembert interessierte den Professor überhaupt nicht. Schließlich hatte er bereits den größten Käse der Welt gesehen, im nordholländischen Alkmaar. 600,5 Kilogramm schwer, aus 5000 Litern Milch erzeugt. Ein Riesenklumpen von einem halben Meter Höhe und 1,60 Metern Durchmesser. Kranker Auswuchs einer Welt, die immer nur auf das Höher, Schneller, Weiter schielte. Bietigheim interessierte in diesem Fall nur die Firma, die für das Camembert-Monstrum verantwortlich war. Und die sich anschickte, Kleinkäsereien aufzukaufen, deren Inhaber auf merkwürdige Weise umgebracht wurden. Frombel.
Ihm war klar, dass sein Verdacht, Frombel könne etwas mit den Verbrechen zu tun haben, weit hergeholt war. Vermutlich würde ein solcher Konzern, der Millionen über Millionen Euro umsetzte, sich nicht mit Morden an kleinen Käsern beschäftigen. Er würde stattdessen mit so viel Geld um sich schmeißen, bis er bekam, wonach es ihm gelüstete. Doch konnte es wirklich purer Zufall sein, dass Frombel gerade jetzt versucht hatte, sich die Käsereien einzuverleiben? Auch wenn es nur den Hauch einer Möglichkeit gab, dass der Konzern etwas mit den Morden zu tun hatte, musste er dieser Spur nachgehen, wollte er die französische Käsekultur vor der
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