Die letzte Reifung
stirbt.
Als Taxifahrer hatte man viel Zeit, um sich die Zukunft auszumalen.
Er würde diese Bus-Verfolgungsjagd etwas für seine Kollegen daheim ausschmücken müssen. Mit mindestens zwei Beinahe-Unfällen und einem Schlagloch, das ihm seinen nicht vorhandenen kochend heißen Kaffee genau im Schoß platzierte.
Das Frühstück hatte Pit zuvor mit den anderen Hausbewohnern in einem kleinen Bistro eingenommen. Dort hatten sie lange über den Angriff in der Nacht gesprochen, den der Professor mittlerweile als klares Zeichen dafür interpretierte, dass er sich auf einer heißen Spur befand. Seinem Schienbein ging es wieder besser, Benno von Saber hingegen war vom Tierarzt gleich dabehalten worden, damit er sich unter Aufsicht erholen konnte. Heute würde er zur Sicherheit noch geröntgt. Doch der kleine Racker war robust.
Das Nervenkostüm des Professors allerdings nicht. Nur mühsam hatte er es geschafft, seine Wut zu unterdrücken. Einen Menschen umzubringen war schlimm genug. Aber ein hilfloses Tier zu treten, das ging nun wirklich zu weit, hatte er Pit erklärt.
Der Bus stoppte an der nächsten Haltestelle, was Pit wieder in die Gegenwart katapultierte. Gérard stieg aus, eine Plastiktüte in der Hand.
Er wirkte mit einem Mal viel älter als noch vor Kurzem, als er mit stolzgeschwellter Brust seine Streichholzskulpturen beschützt hatte. Jetzt, mit einer schlecht gedrehten Zigarette im Mundwinkel, die Schultern tief hängend, sah er aus wie eine alte, klapprige Dampflok. Fällig zum Abwracken.
Pit hielt in der nächsten Parklücke. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Wieder eines dieser Dörfchen, die wie Pilze aus dem fruchtbaren Boden des Burgunds schossen. Jetzt gegen Mittag war kaum jemand unterwegs, die Bürgersteige wirkten trocken und staubig. Pit bekam Durst. Ein kaltes Bier, das wäre es jetzt.
Doch er musste ja Gérard hinterher. So wurde man Abstinenzler.
Pit hatte sich zur Tarnung einen ausgeleierten Jogginganzug von Jan angezogen. Es gab keine Stelle, an der dieser nicht spannte, und Pit kam sich vor wie ein pfälzischer Saumagen. Doch zusammen mit dem Strohhut des Professors war es eine grandiose Verkleidung.
Allerdings völlig unnötig, denn Gérard drehte sich nicht ein einziges Mal um.
Er blickte auch nicht auf, las weder die Straßenschilder noch zögerte er an Straßenkreuzungen. Gérard musste diesen Weg schon viele Male zurückgelegt haben. Schließlich verließ er den Ort und ging in Richtung der Weinberge, wo ein einsamer, von einer hellen Mauer umgebener Friedhof lag. Die meisten Gräber waren von rostzerfressenen, schmiedeeisernen Zäunen eingefasst. Etliche Grabplatten waren gesprungen, die Schriftzeichen unlesbar. Ein Kreuz lag zerbrochen auf dem Kiesweg, Porzellanrosen zerborsten daneben.
Gérard ging langsam den Hauptweg hinunter, und Pit schob sich zur schattigen Wasserstelle, wo Dutzende weiße Plastikkanister zum freien Gebrauch an Haken hingen.
Der alte Bauer stoppte schließlich an der hintersten Ecke des Friedhofes. Dort standen keine Grabsteine, sondern nur eine große Säule. Nicht ein einziger Strauß lag davor. Doch Gérard zog nun einen aus seiner Plastiktüte und legte ihn sachte ab.
Pit füllte einen der Kanister mit Wasser und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um auf dem Kiesweg nicht allzu viel Lärm zu verursachen. Trotz seines Gewichts schaffte er es, für keine größeren Erschütterungen zu sorgen. Gute zehn Meter hinter Gérard blieb er stehen und goss Wasser in einen neben ihm stehenden Blumenkübel.
Nun konnte Pit erkennen, was es mit dieser Ecke des Friedhofs auf sich hatte. Es war der Platz, wo all diejenigen beerdigt wurden, denen etwas Wichtiges fehlte. Nämlich ein Name oder eine Familie.
Gérard betete kniend, den Kopf tief gesunken, die Hände gefaltet. Dann bekreuzigte er sich, stand auf und drehte sich um.
Er sah zu Pit hinüber.
»Lassen Sie mich in Frieden, wenigstens hier.«
Es machte also keinen Sinn, weiter Charade zu spielen. Pit wollte Gérards Intelligenz schließlich nicht beleidigen.
»Wer liegt dort begraben?«
»Das geht Sie nichts an.«
Pit trat neben den alten Bauern und bekreuzigte sich ebenfalls.
»Machen Sie das nicht«, schnaubte Gérard. »Wer nicht an Gott glaubt, der sollte es lassen. Das beleidigt ihn nur.«
»Ich glaub aber an den Bärtigen. Hab sogar einen heiligen Christophorus in meinem Wagen. Der nützt richtig was. Seit zwei Jahren, drei Monaten und zwölf Tagen hatte ich keinen Unfall mehr.«
Pit
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