Die letzte Rune 01 - Das Ruinentor
ihrer Flucht aus Sebaris' Herrenhaus – stießen sie auf die Pfähle.
Hohe Holzpfähle säumten beide Seiten der Straße und zeigten wie Knochenfinger in den Himmel. Aber es waren nicht die Pfähle selbst, die die vier Reiter anhalten, würgen und die Hände vor die Münder schlagen ließen. Es war das, was man an jedem von ihnen festgebunden hatte.
Falken brach die schreckliche Stille. »Das müssen … das müssen ein ganzes Dutzend sein.«
»Mehr«, sagte Beltan.
»Bei allen Sieben, wer bringt denn so etwas nur zustande?«
»Diese Tat wurde bei keinem der Sieben Mysterien begangen«, sagte Melia voller Trauer.
Gegen seinen Willen betrachtete Travis den ihm am nächsten stehenden Pfahl. Was dort baumelte, war kaum mehr als ein Skelett, das von getrockneten Sehnen zusammengehalten wurde und mit Händen und Füßen an den Holzpfahl gefesselt war. Über den leeren Augenhöhlen des Totenschädels waren dunkle, vertraute Linien eingestanzt: das Zeichen des Raben. Dieser hier war auf so brutale Weise markiert worden, daß sich das glühende Brandeisen durch die Haut gebrannt und den darunterliegenden Knochen versengt hatte. Travis hoffte, daß das Opfer da schon tot gewesen war, obwohl er genau wußte, daß es sich nicht so verhalten hatte, daß der Tod erst Tage später gekommen war, dort oben auf dem Pfahl, als die ungeduldigen Aasvögel aus dem Himmel herabstießen, um vor ihrer Zeit zu fressen.
Jeder Pfahl trug eine ähnliche Last. Sie erhoben sich über die Straße wie ein schauerlicher Wald, in dem Kleider- und Fleischfetzen Blättern gleich im Wind flatterten. Sieh weg, Travis. Du mußt wegsehen. Aber er konnte nicht. Ein so schrecklicher Anblick verlangte nach einem Zeugen.
»Da ist ein Schild an den Pfahl genagelt«, sagte Beltan.
Sie drängten ihre nervösen Pferde näher heran. Die Worte auf dem Schild waren mit plumper Hand geschrieben, wie von jemandem, der kaum des Schreibens mächtig war. Hier is ein Hexe, un ihre Augen wurdn rausgerissen.
»Armes Ding«, flüsterte Melia. »Vermutlich hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie von Sia gehört. Vermutlich war sie bloß die weise Frau des Dorfes.«
Beltan zeigte auf einen anderen Pfahl. »Oder sie war ein Krüppel und einfach anders, so wie der da.« Trotz Verwesung war der Klumpfuß der Leiche deutlich erkennbar.
Sie ritten die Pfahlreihe weiter ab. Unter einem lag ein Haufen halbverbrannter Bücher.
Falken seufzte. »Also ist Lesen jetzt auch schon ein Verbrechen. Was geht hier vor?«
An dem letzten Pfahl fanden sie so etwas wie eine Antwort. Die daran festgebundene Leiche war so verstümmelt, daß sie kaum noch menschlich aussah. Darunter war ein weiteres primitives Schild festgenagelt. Das passiert mit Häretikern und Runensprechern.
Travis blickte Falken ängstlich an. »Ich verstehe das nicht. Warum haben sie das getan?«
Es war Melia, die ihm antwortete. »Ich glaube, wir haben gerade ein weiteres Dogma des Rabenkultes kennengelernt. Für die Gefolgsleute des Raben ist Magie offenbar Ketzerei. Genau wie das Lesen von Büchern. Oder einfach anders zu sein.«
Beltan umfaßte den Griff seines Schwertes. »Warum hat Königin Eminda dieser Sache kein Ende bereitet? Ein paar Dutzend Ritter, die ihre Schwerter in die richtigen Herzen stoßen, und dieser neue Kult wäre tot.«
»Politik und Religion sind keine gute Mischung«, sagte Falken. »Es könnte gute Gründe geben, daß sich Eminda da raushält. Alles, was Fanatiker brauchen, um militant zu werden, ist ein Märtyrer. Wenn Königin Eminda versuchen würde, den Rabenkult zu vernichten, könnte sie unter Umständen einer schmutzigen kleinen Rebellion gegenüberstehen.«
Beltan grunzte, widersprach aber nicht.
»Wie dem auch sei«, sagte Melia, »ich glaube, wir sollten von jetzt an besser Dörfer und Städte meiden.«
Sie blickte nicht in Travis' Richtung, aber er wußte, was ihre Worte wirklich bedeuteten. Er rieb sich die rechte Hand. Die Rune, die einmal auf seiner Hand geleuchtet hatte, war nun unsichtbar, aber er konnte sie noch immer spüren; es war wie ein Kribbeln unter der Haut. Was würde geschehen, wenn sie jemals wieder aufleuchtete und die Anhänger des Raben in der Nähe waren und sie sahen? Würde er noch leben, wenn sie ihn an den Pfahl banden?
Warum, Jack? Warum hast du mir das angetan? Hast du nicht gewußt, was passieren würde?
»Reiten wir weiter«, sagte Falken.
Sie trieben ihre Tiere an, und die Pferde, die diesen Ort so schnell wie möglich verlassen
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