Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
würde es nicht schaden, Durge etwas genauere Anweisungen zu geben, wenn er sich das nächste Mal bereit erklärte, ihre Tür zu bewachen.
Aryn trat an Graces Seite. »Lord Falken.« Sie sprach atemlos, aber selbstbewußt. »Lady Grace hat mir berichtet, was hier in der letzten Nacht geschehen ist. Und ich habe erfahren, daß König Boreas noch nichts von alledem weiß. Wir müssen es ihm sofort berichten.«
Melia bewegte sich an dem Barden vorbei auf die Baronesse zu; sie schien zu schweben. »Ach ja? Müssen wir das?«
Aryn trat unbewußt einen Schritt zurück, obwohl sie die größere von den beiden war und von königlichem Geblüt. »Gewiß! Der König muß sofort von Gewalt erfahren, die sich in seiner eigenen Festung zugetragen hat.«
Melia erwiderte nichts. Ihr kupferfarbenes Gesicht war so undurchdringlich, wie es schön war.
»Macht Euch keine Sorgen, Lady Aryn«, sagte Falken. »Ich werde Boreas von dem Feydrim berichten. Ihm und all den anderen Königen und Königinnen. Der Rat der Könige muß eine Entscheidung fällen, und ich hoffe, daß die Leiche dieser Bestie sie überzeugen wird. Aber es ist wichtig, daß die anderen Herrscher nicht denken, daß König Boreas im voraus davon wußte, daß er Informationen hatte, die ihnen fehlten. Sie müssen gemeinsam zu ihrer Entscheidung kommen.« Der Barde sah Aryn ernst an. »Könnt Ihr das verstehen, Euer Hoheit?«
Aryn schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht … aber der König … ich sollte wirklich …«
Grace griff nach Aryns gesunder Hand und drückte sie. »Nein, Aryn. Sag Boreas nichts. Noch nicht.«
Aryn starrte sie an. Grace war selbst überrascht. Es war ja nicht so, als würde sie den Barden kennen. Oder vielleicht doch, zumindest in gewisser Weise, durch Travis’ Erzählungen. Sicherlich war Falken sehr klug und wußte mehr als die anderen. Sie wandte ihren Blick von Aryn nicht ab. Schließlich seufzte die Baronesse und nickte. Grace drückte ihre Hand fester.
Falken grinste – er sah auf eine wölfische Art wirklich sehr gut aus – und verbeugte sich vor Aryn. Dann wandte er sich an Beltan. »Warum holst du nicht unseren kleinen Freund heraus?«
Beltan ging auf den Schrank zu. Grace wollte nicht hinschauen, aber sie wandte den Kopf doch in die Richtung, als Beltan die Schranktüren aufzog.
Der Schrank war leer.
»Bei allen Alten Göttern!« fluchte Falken, bevor er Grace ansah. »Ist jemand in der letzten Nacht in Euer Gemach gekommen? Irgendjemand?«
Grace rang nach Worten. »Nein … Niemand. Ich war die ganze Nacht wach.«
»Keine Besucher sind an die Tür der Durchlaucht gekommen, bis Lady Aryn und Ihr eingetroffen seid«, sagte Durge. »Und ich habe selbst die Fenster verriegelt.«
»Und trotzdem ist es verschwunden«, sagte Melia. Sie strich mit ihrer schlanken Hand über das Holz des Schrankes, als würde sie nach etwas Bestimmtem suchen.
»Aber wer hätte es wegnehmen können?« fragte Falken.
»Vielleicht war er es.«
Alle drehten sich um. Es war Travis, der gesprochen hatte. Er hatte die ganze Zeit über geschwiegen, aber jetzt trat er vor. Seine grauen Augen schienen hinter der Brille ängstlich in die Ferne zu starren.
»Von wem sprichst du, Travis?« fragte Grace. »Wer soll das Ungeheuer geholt haben?«
Er spreizte die Finger seiner rechte Hand. Der Arm hing in einer Schlinge: Grace hatte den Kratzer selbst verbunden. Es hatte nicht sehr ernst ausgesehen, aber sie wollte keine Entzündung riskieren, nicht auf dieser Welt.
»Er. Der Fahle König. In Imbrifale.«
Grace waren die Begriffe fremd, trotzdem lief ihr ein kalter Schauder über den Rücken.
»Gehörte dieses Ding etwa nicht zu seinen Kreaturen?«, fragte Travis den Barden. »Wie … wie die anderen im Weißen Turm?«
Falken nickte langsam. Travis schloß die Augen.
»Moment mal«, sagte Beltan. »Was ist denn das?« Der Ritter bückte sich und hob etwas vom Boden des Schrankes auf. Als er wieder hochkam, keuchte Grace erschrocken auf. Er hielt einen Zweig Immergrün in der Hand.
Später konnte sich Grace nicht mehr daran erinnern, getaumelt zu sein, daß Durge sie mit seinen starken, rauhen Händen aufgefangen und sanft in einen Stuhl am Kamin gesetzt hatte oder daß Aryn ihr einen Pokal Wein in die Hand gedrückt hatte. Als nächstes wurde sie sich bewußt, daß sie erzählte. Die Worte strömten nur so aus ihr heraus, als sie von der Nacht erzählte, in der das Glockengeläut sie geweckt hatte, in der sie durch das Schloß gegangen und
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