Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
Herz schlug ihr bis zum Hals. Niemand antwortete. Die Schritte verstummten. Falscher Alarm, was das anging. Sie klopfte erneut, aber die Tür öffnete sich trotzdem nicht. Erleichterung durchströmte sie. Logren hielt sich wohl nicht in seinem Gemach auf – sie hatte einen Aufschub erhalten. Mit einem breiten Grinsen klopfte sie noch einmal, nur damit sie Boreas sagen konnte, daß sie ihr Bestes getan hatte.
»Kann ich Euch helfen, Mylady?«
Die tiefe und volltönende Stimme erscholl nicht hinter der Tür, sondern hinter ihr. Grace wirbelte herum, und irgendwo zwischen Lungen und Lippen stockte ihr Atem. Er war noch viel attraktiver, als sie in Erinnerung hatte. Seit dem ersten Bankett auf Calavere hatte sie nicht mehr so nahe vor ihm gestanden und in seine intelligenten Augen geblickt.
Erkennen flackerte in diesen Augen auf, und er lächelte.
Er hat gute Zähne.
Die Absurdität dieses Gedankens hätte sie beinahe auflachen lassen, aber auf dieser Welt hatten so viele Menschen schreckliche Zähne, falls sie überhaupt noch welche hatten. Doch seine waren weiß und gerade, und seine Haut war glatt und von keiner Krankheit gezeichnet. Da gab es nur die feine weiße Narbe, die über seine Wange lief, und die war wie eine Vase, die in einem ansonsten exquisit ausgestatteten japanischen Zimmer nicht an der richtigen Stelle stand – die einzige kleine Unvollkommenheit, die den Rest noch makelloser erscheinen ließ.
Er hob eine dunkle Augenbraue. Grace wurde bewußt, daß sie ihn zu lange angestarrt hatte. Sie mußte etwas sagen, egal was.
»Lord Logren, ich hatte gehofft, Euch hier zu finden.«
»Tatsächlich, Lady Grace? Und wen hattet Ihr außerdem noch hinter meiner Tür zu finden erwartet?«
Eine Welle der Panik schlug über ihr zusammen. Was wollte er damit sagen? Hatte er sie an dem Tag dort im Garten stehen gesehen, wie sie zusah? Nein, sie reagierte übertrieben. In seinen Augen funkelte der Übermut. Er scherzte bloß.
Glücklicherweise sprach er weiter. Sie war nicht sicher, ob sie Worte gefunden hätte.
»Ich komme gerade von einer Besprechung mit meiner Königin und wollte mit Lord Olstin ausreiten. Er bittet mich schon seit Tagen, ihn zu begleiten.«
»Dann solltet Ihr besser gehen, Mylord«, sagte sie.
Er legte den Kopf schief. »Mylady, Ihr würdet mich so ohne weiteres einem solchen Schicksal überlassen?«
»Vornehme Herkunft hat ihren Preis.« Sie holte zischend Luft. Wo war das denn hergekommen?
»Das ist wohl wahr«, erwiderte Logren. »Aber wir sprechen hier von Lord Olstin von Brelegond, Mylady. Ich weiß, daß Ihr ihn kennt. Er reitet mit den Zügeln in der einen und einem Weinpokal in der anderen Hand. Ich nehme an, daß ich alle paar Minuten anhalten muß, bloß um ihn vom Boden aufzuklauben. Obwohl ich wetten möchte, daß sein kostbares Gewand ein ausgezeichnetes Kissen abgeben wird, wenn er fällt.«
»Ich glaube, man könnte mit jedem seiner Wämser mehrere große Stühle polstern«, sagte Grace.
Logren schlug die Hände zusammen und lachte. Zu ihrem Erstaunen fiel Grace in das Lachen ein, und es war ehrlich gemeint. Wie an dem Abend im Großen Saal hatte es den Anschein, als würde er ihr ihre Furcht nehmen und ein Gefühl der Ungezwungenheit vermitteln, nicht nur, was seine Gesellschaft betraf, sondern auch sie selbst.
»Was werden wir tun, um Euch vor diesem furchtbaren Schicksal zu retten, Mylord?« fragte sie nun mutiger.
Er rieb sich mit den langen Fingern das Kinn. »Wie Ihr schon anmerktet, Mylady, habe ich keine Wahl. Es sei denn …«
»Es sei denn was?«
»Es sei denn, mir würde jemand befehlen, nicht zu gehen. Natürlich könnte das nur ein Adliger tun, der einen höheren Rang als ich einnimmt.«
»Und wer steht über einem Ersten Berater, Mylord?«
»Ich fürchte, dazu braucht man mindestens einen Herzog«, sagte er ernst.
»Und wie wäre es mit einer Herzogin?«
Er schnippte mit den Fingern. »Das ginge auch.«
»Dann, Mylord, verbiete ich Euch, mit Lord Olstin auszureiten.«
Er legte eine Hand auf die Brust und verbeugte sich. »Wie Ihr wünscht, Mylady.«
Ein Schauder durchfuhr sie. Es war albern. Das war alles nur ein Spiel. Logren gehorchte nicht ihren Befehlen, er suchte bloß nach einer Ausrede. Trotzdem, es fühlte sich beinahe echt an.
»Darf ich Euch hereinbitten, Mylady?«
Er zeigte auf die Tür, und erst in diesem Augenblick wurde sie sich bewußt, daß sie in ihrer Verzagtheit bis zu dem Holz zurückgewichen war. Sie eilte zur Seite
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