Die letzte Rune 02 - Der fahle Könige
Gesundheit seines Königs.
»Sorrin hat so große Todesangst, daß er sich nicht mehr mit dem Leben anderer beschäftigen kann«, flüsterte der junge Embarraner ihr zu. »Und jeden Tag ist er mehr davon überzeugt, verdammt zu sein und an seinem eigenen Tod nichts mehr ändern zu können.«
Jetzt wurde Grace so manches klar. Für ihn ging es nicht darum, wen Embarr um Hilfe bitten würde, sondern ob es das überhaupt tun sollte. Sorrins Wahn war so weit fortgeschritten, daß Irrenbril die Befürchtung hatte, der König würde die Domäne um sich herum in Flammen aufgehen lassen.
Die einzige Begegnung, die bei Grace keinen bitteren Nachgeschmack hinterließ, war die mit Kalyn von Galt. Kalyn war nicht nur die Beraterin König Kylars, sie war auch seine Zwillingsschwester und nur wenige Minuten jünger als er. Gerüchteweise hatte sie ebensoviel Macht in der Domäne wie ihr Bruder. Die Leute meinten das abwertend, aber Grace sah die Sache ganz anders. Kylar liebte und respektierte seine Schwester ganz offensichtlich.
»Es tut mir ja so leid, daß Ihr Euch mit König Boreas zerstritten habt«, sagte Kalyn. Die braunen Augen glänzten in ihrem anziehenden und Vertrauen einflößenden Gesicht. »Ihr müßt Kylar oder mir unbedingt mitteilen, wenn Ihr etwas braucht, ganz egal was – Unterkunft oder ein Pferd und Diener für die Heimreise.«
Grace war sprachlos. Sie konnte Kalyn nur dankbar die Hand schütteln. Galt war die kleinste und unwirtlichste aller Domänen. Wenn einer der Könige Grund zur Angst hatte, dann war das Kylar. Und trotzdem kam Kalyn zu ihr und sicherte ihr ihre Unterstützung zu, statt selbst darum zu bitten. Vielleicht gab es doch noch Hoffnung für diese Welt.
Der Berater, den Grace unbedingt sehen wollte, kam nicht zu ihr. Aber das überraschte sie nicht. Logren war viel zu intelligent, um auf eine Finte wie die von ihr und Durge hereinzufallen. Er hatte die Geschichte über ihren Streit mit Boreas wahrscheinlich durchschaut, sobald er sie gehört hatte. Grace konnte nicht darauf hoffen, Logren von Eredane zu beeinflussen, es sei denn …
Nein, sie sollte sich Logren besser aus dem Kopf schlagen. Sie mußte darauf bauen, daß seine Klugheit ihn davor bewahrte, sich in Kyrenes Netz zu verfangen.
Es konnte keinen Zweifel daran geben, daß die Gräfin von Selesia wirklich etwas plante. Grace hatte keine Ahnung, was genau es war, aber Kyrene war von Graces angeblichem Streit mit Boreas sichtlich angetan.
»Ich bin so froh, daß Ihr die Situation endlich durchschaut habt, meine Liebe«, säuselte Kyrene, als sie sich im Garten für eine von Graces Unterrichtsstunden trafen. »König Boreas mag Euch brauchen, aber Ihr braucht ihn nicht. Ihr verfügt über Macht, die er sich gar nicht vorstellen kann.«
Und du bist eine Närrin, wenn du mein Täuschungsmanöver nicht durchschaust, Kyrene. Oder wenn du glaubst, daß Boreas ein Dummkopf ist, den du um den Finger wickeln kannst.
Aber versuchte Grace nicht genau dasselbe? Sie und Aryn hielten ihren Unterricht bei Kyrene und Tressa noch immer vor dem König geheim. Was würde Boreas von ihnen denken, wenn er wüßte, was sie hinter seinem Rücken taten? Doch Grace war klar, daß sie den Hexen jetzt unmöglich den Rücken kehren konnte.
Außerdem war Ivalaine die einzige Herrscherin, die das Abstimmungsergebnis im Rat unmittelbar verändern konnte. Grace wußte, daß sie sehr auf der Hut sein mußte. Fragen, die sie selbst äußerst subtil fand, konnten für Ivalaine so indiskret und eindeutig wie eine Fanfare sein. Trotzdem versuchte sie mehrmals, die Gründe für die Enthaltung der Königin von Toloria bei der Abstimmung herauszufinden. Und was noch wichtiger schien: Lagen ihre Motive dafür in ihrer Rolle als Königin – oder als Hexe? Doch Grace begegnete Ivalaine nur selten – Kyrene war nun ihre Lehrerin –, und bei den wenigen Gelegenheiten, die sich ihr boten, schien es ihr nie zu gelingen, die kühle Maske der Königin zu durchdringen.
Als Grace endlich wieder die Zeit fand, mit Travis nach weiteren Türen mit Symbolen darauf zu suchen, hatte sie eine Pause bitter nötig. Er wirkte erstaunt, als er ihr die Tür öffnete.
»Ich bin spät dran. Tut mir leid«, sagte sie.
»Es ist fast eine Woche her, Grace.«
Sie verzog das Gesicht. »Ich bin sehr spät dran. Tut mir wirklich leid.«
Da lachte er, und sie wußte, daß es in Ordnung war, daß er ihr nicht böse war, weil sie nicht früher gekommen war. Es fiel ihr immer noch
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