Die letzte Rune 03 - Der Runensteinturm
tatsächlich.
Deirdre stieg von dem Motorrad und nahm aus derselben fließenden Bewegung heraus den Helm ab. Sie schüttelte den Kopf, um das schwarze Haar wieder zu richten, dann wandte sie sich Travis zu.
»Alles in Ordnung mit dir?«
Es war das erste, was sie seit dem Augenblick, in dem sie ihm zugerufen hatte, sich auf die Maschine zu schwingen, sagte. Er wollte etwas erwidern, fand aber nicht die richtigen Worte. Er war sich nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt wußte, was es bedeutete, wenn alles in Ordnung war. Deirdre drehte sich um und blickte in die Nacht hinaus. Plötzlich war er sich sicher, daß sie viel mehr über die Geschehnisse wußte als er.
Travis deutete auf die geisterhafte Oper. »Warum hier?«
»Es gibt da jemanden, den du kennenlernen mußt.«
Sie setzte sich in Bewegung und stieg die marmorne Treppe zum Eingang hinauf. Travis zögerte. Damals bei der seltsamen Wiedererweckungsshow hatte ihm Bruder Cy gesagt, daß er immer eine Wahl hatte. Jetzt war er sich nicht mehr so sicher, ob das stimmte. Er eilte hinter Deirdre her.
Sie blieb vor der Tür stehen, und er holte sie ein. »Die ist verschlossen«, sagte er. »Das Gebäude ist schon seit …«
Er stockte, als sie ein Gerät aus der Tasche zog. Geformt wie ein Flußkiesel, bestand es doch aus Plastik. Sie drückte eine kleine Taste. Ein Klicken ertönte, eine der beiden Türhälften sprang ein paar Zentimeter auf. Sie verstaute das Gerät wieder in der Tasche und schob sich an der Tür vorbei. Travis holte tief Luft, dann folgte er ihr in die dahinter liegende Dunkelheit.
Schließlich kamen sie an den Rand eines großen Raumes. Gegenüber einem Ozean schäbiger Sitze erhob sich eine Bühne, die von einem einzelnen Spotlight erhellt wurde.
Deirdre lehnte sich an ein verziertes Geländer. Sie sprach nicht laut, aber ihre Stimme hallte durch das alte Theater. »Sie haben ihn gefunden.«
Mit wem sprach sie da? Dann ertönte eine andere Stimme aus dem Bogen des Proszenium, die von der Akustik der Oper getragen wurde.
»Die Philosophen werden nicht erfreut sein.«
Deirdre verstärkte den Griff um das Geländer. »Zum Teufel mit den Philosophen.«
Gelächter hallte durch die Luft. »Überlegen Sie sich, was Sie sagen, Deirdre Falling Hawk. Die Philosophen haben viele Ohren. Sie haben schon immer dazu geneigt, das zu vergessen.«
Eine Gestalt trat aus den Schatten der Bühnenseite in den Lichtkreis.
»Willkommen, Travis Wilder«, sagte der Mann.
Travis schüttelte den Kopf, und in seinem Magen krampfte sich alles zusammen. Wer waren alle diese Fremden, die ihn so gut zu kennen schienen? Er sah Deirdre an, aber ihr Blick war entrückt und auf die Bühne fixiert. In diesem Augenblick hätte sie genausogut eine Fremde für ihn sein können.
»Was wollen Sie?« Die Art und Weise, wie seine zitternde Stimme durch die Oper hallte, überraschte ihn.
»Helfen«, sagte der Mann auf der Bühne.
Travis seufzte. Ihm war nicht entgangen, daß der andere Mann nicht Ihnen helfen gesagt hatte.
Deirdre berührte seinen Arm. »Komm, Travis.«
Sie ging voraus zur Bühne, und er folgte ihr.
Als sie die tiefste Stelle erreicht hatten, saß der Mann am Rand des Orchesterraums. Er schien in Travis’ Alter zu sein, so Anfang Dreißig oder vielleicht auch etwas älter, wenn man die grauen Strähnen in seinem lockigen schwarzen Haar in Betracht zog. Er trug zerknitterte Stoffhosen und ein weißes Leinenhemd, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen aufgerollt waren. Bartstoppeln verdunkelten sein Kinn, die Nase über den sinnlichen Lippen war hakenförmig. Er sah aus wie ein Filmstar aus einem Noir-Film der vierziger Jahre: attraktiv, etwas zerknittert, möglicherweise gefährlich. Auf dem Bühnenboden neben ihm lag ein hellgelber Umschlag.
»Wer sind Sie?« fragte Travis.
Der Mann streckte die Hand aus. »Mein Name ist Farr. Hadrian Farr.«
Travis ergriff die Hand nicht. Das hatte er mit seiner Frage nicht gemeint.
Der Mann – Farr – schien sich an seiner Reaktion nicht im mindesten zu stören. Seine Hand legte sich auf den Umschlag, als wäre es sowieso seine Absicht gewesen, danach zu greifen.
Travis versuchte es erneut. »Was wollen Sie?«
Der Mann lächelte. Seine Zähne waren schief. Es war ein charmanter Ausdruck. »Wir suchen Dinge«, sagte er. »Ungewöhnliche Dinge. Wunderbare Dinge.«
Travis holte zischend Luft.
Jeder ist auf der Suche nach etwas …
Er atmete aus, wollte nachfragen, aber er wußte nicht, wo er überhaupt
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