Die letzte Rune 04 - Die Flammenfestung
hatte nie gedacht, jemals jemanden Melia Kind nennen zu hören. Aber in diesem Augenblick erschien die sonst so majestätische Frau wie ein Kind, das klein und schlank in der Umarmung des alten Mannes verschwand, der jetzt, da er stand, sich als mindestens so groß wie Beltan erwies.
»Nun kommt schon«, sagte Falken mit einem Lachen. »Das ist unser alter Freund, von dem wir euch erzählt haben. Unser sehr alter Freund.«
Der Fremde, der sich als der Mann namens Tome entpuppt hatte, schaute auf und fixierte den Barden mit seinen hellen, goldfarbenen Augen. »Falken von Malachor, ausgerechnet du mußt vom Alter sprechen!«
Grace wußte nicht, wie ihnen geschah, aber Augenblicke später saßen sie alle um das Feuer versammelt, lachten und tranken aus den Holzbechern, die Tome verteilt hatte und von denen Grace nicht hundertprozentig überzeugt war, daß sie nur Maddok enthielten. So wie sie vermutete, daß sich auch mehr hinter Tome verbarg, als auf den ersten Blick ersichtlich war. Er war alt, das schon. Sein Gesicht wies tiefe Falten auf und sein Bart – der so weiß wie die Kutte war – reichte ihm bis zur Brust, während sein kahler Kopf glänzte.
Aber Grace hatte den Eindruck, daß Tomes Falten das Resultat von sowohl Fröhlichkeit wie auch Weisheit waren, und an seinen Ohren baumelten goldene Ringe. Aryn kicherte – was in der letzten Zeit nur selten bei ihr vorkam –, als der Alte ihr einen Becher reichte, und Tira hatte fast sofort auf seinem Schoß ihr Lager aufgeschlagen.
Von ihnen allen schien sich allein Beltan nicht von Tomes humorvoller Art anstecken zu lassen, denn der Ritter saß zusammengesunken am Rande des Lichtkreises und trank stumm aus seinem Becher. Es hatte den Anschein, als würde sein Blick auf Travis ruhen. War bei dem Kampf gegen die Krondrim etwas zwischen ihnen vorgefallen – etwas, das Travis ihnen verschwiegen hatte? Bevor Grace darüber nachdenken konnte, fühlte sie, wie ihr jemand einen Becher in die Hand drückte.
»Trinkt, Euer Durchlaucht«, sagte Tome mit leuchtenden Augen. Er schenkte Lirith und Aryn nach, die neben Grace saßen. »Und ihr auch, Töchter Sias.«
Grace nahm einen Schluck. »Wer ist eigentlich Sia?« fragte sie, ohne darüber nachzudenken. Vielleicht lag es daran, daß sie den Namen nun schon so oft gehört hatte – Lirith hatte ihn erwähnt, Melia auch, sogar der Drache.
Tome grinste und zeigte die perfektesten Zähne, die Grace je gesehen hatte. »Wer Sia ist, wollt Ihr wissen? Nun, mein liebes Kind, das ist eine gute Frage. Das habe ich mich schon oft selbst gefragt. Vielleicht möchte ja die Lady Melia dies beantworten.«
Melia verschränkte die Arme. »Das glaube ich nicht!«
Ihre Wangen waren knallrot, und sie saß schief da. Hätte Grace es nicht besser gewußt, hätte sie geglaubt, die Lady sei betrunken.
Falken schaute Lirith über den Becherrand an. »Sollte diese Frage nicht lieber Graces und Aryns Lehrerin beantworten? Tatsächlich überrascht es mich, daß sie es nicht schon längst getan hat.«
Verwirrt wandte sich Grace Lirith zu, und Aryn folgte ihrem Beispiel. Die Tolorianerin nickte, dann stellte sie den Becher ab. Alle verstummten und beugten sich näher heran, um ihr zuzuhören.
»Man kennt Sia an vielen Orten unter vielen Namen, aber sie alle bedeuten ein und dasselbe: die Göttin. Aus Sia einspringt die Weltenkraft, das Netz, das alles Leben miteinander verwebt.« Mit einem Finger zeichnete Lirith einen Kreis in den Staub. »Sia war es, die die Welt gebar. Und die die Welt ist, denn ganz Eldh ist ihr Körper.«
Travis kratzte sich am Kinn. »Aber ich dachte immer, der Weltenschmied hätte die Welt geschaffen, als er die Erste Rune sprach.« Er sah Falken an. »Zumindest hat man es mir so erzählt.«
»Das ist der Glauben der Runensprecher«, erwiderte Lirith kühl. »Aber es gibt noch andere Geschichten über die Schöpfung Eldhs als nur die, die von den Männern des Grauen Turms erzählt wird.«
Aryn strich mit einem Finger über den Kreis. »Aber wenn die Weltenkraft Sia entspringt, warum habt Ihr nicht schon früher von ihr erzählt?«
Lirith schien ihre Worte mit großer Sorgfalt zu wählen. »Es gibt unter den Hexen welche, die den Namen Sias heutzutage lieber nicht aussprechen.«
»Warum das denn?« fragte Grace überrascht.
Lirith zuckte mit den Schultern. »Es gibt Leute, die verbinden mit Sia die alten Zeiten und das Wirken von Vetteln und Kräuterweibern.«
Jetzt begriff Grace. »Also beschwört Sia
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