Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
überzeugen.«
»Richtet nicht zu streng über ihn, Schwester«, sagte Mirda und berührte Aryns Schulter. »Es gibt viel, das ihm zu schaffen macht.«
»Ja, aber was? Er hat sich in letzter Zeit merkwürdig verhalten. Merkwürdiger als sonst, meine ich. Ich sehe ihn oft, wie er allein ausreitet. Ich glaube, er hat etwas vor.«
Lirith lachte aus vollem Hals. »Ich glaube, der Prinz hat immer irgendetwas vor. Das ist seine Natur.« Sie sah Mirda an. »Aber Aryn hat Recht. Er hat sich in der letzten Zeit verändert, und seine Macht wächst. Er scheint willentlich in den Schatten verschwinden zu können, und ich würde eine Monatsration Maddok wetten, dass er einen Illusionszauber webt, um das zu erreichen.«
Mirda sah dem Prinzen nach. »Am Ende ist er vielleicht stärker als wir alle.« Sie wandte sich Aryn zu. »Oder fast alle. Aber er wird erst dann Zugang zu seiner vollen Macht haben, wenn er ein Mann ist.«
Aryn runzelte die Stirn. »Aber der Prinz ist achtzehn. Das ist doch sicher alt genug, um ihn als Mann zu betrachten.«
»Ich habe nicht von seinem Alter gesprochen«, sagte Mirda.
Lirith hob die Brauen. »Ich verstehe. Aber er ist ein Prinz. Viele unternehmungslustige junge Frauen im Schloss würden sich ihm gern zur Verfügung stellen. Ich bin überrascht, dass er seine Jungfräulichkeit nicht schon längst verloren hat.«
»Vielleicht weiß er, was das mit ihm machen wird«, meinte Mirda.
Bevor Aryn fragen konnte, was sie damit meinte, kam einer der Wachsoldaten den Korridor hinuntergestürmt und rannte in den Großen Saal. Augenblicke später bog Königin Ivalaine in Begleitung zweiter Ritter um die Ecke. Sie trug noch immer ihr schlammbespritztes Reitgewand, und ihr blondes Haar war vom Wind zerzaust. Was auch immer sie herführte, es musste in der Tat dringend sein.
Ivalaine schritt den Korridor schnell entlang, die Augen auf die Türflügel des Großen Saals gerichtet. Es hatte den Anschein, als würde sie einfach an den drei Frauen vorbeigehen.
»Euer Majestät, bitte!«, stieß Aryn hervor.
Ivalaine zögerte, dann drehte sie sich um und sah Aryn an. Der Blick der Königin war fiebrig und unstet, er konzentrierte sich auf nichts länger als einen Moment.
»Nähert euch mir nie wieder«, sagte Ivalaine in kaltem und ausdruckslosem Tonfall. Ihre Finger schienen sich in den Stoff ihres Gewandes krallen zu wollen; ihre Fingernägel waren schmutzig und abgekaut, »ich habe mit keiner von euch etwas zu bereden. Ich bin nur wegen einer Person gekommen, allein wegen einem.«
Aryn fühlte, wie sich Lirith neben ihr versteifte. »Aber Schwester, wir bitten Euch doch nur …«
»Nennt mich nie wieder so«, zischte Ivalaine. »Ich bin niemandes Schwester mehr. Ich bin auch nicht mehr die Mutter. Obwohl, vielleicht, sollte es noch nicht zu spät sein, sollte ich mit meiner Dummheit noch nicht alles ruiniert haben, werde ich vielleicht doch noch Mutter sein.«
Mit diesen Worten betrat die Königin den Großen Saal. Die Türflügel schlugen hinter ihr wie mit einem Donnerhall zu und ließen die drei Frauen verwirrt dort stehen.
Aryn hoffte, am Abend eine weitere Gelegenheit zu bekommen, mit Ivalaine beim Essen sprechen zu können. Aber der Sitz neben König Boreas an der Hohen Tafel blieb leer; von der Königin war keine Spur zu entdecken. Oder von Prinz Teravian, auch wenn das keine Überraschung war. Er war nur selten auf dem Platz zu Boreas' Rechter anzutreffen, obwohl dieser stets für ihn reserviert blieb.
Der König saß in der Mitte der Hohen Tafel und schaute finster drein. Obwohl ununterbrochen Krieger in das stetig wachsende Lager unterhalb des Schlosses strömten, war Boreas seit dem Tag, an dem Lady Grace abgereist war, düsterer Laune. Und es war nicht allein Graces Abwesenheit, die ihm zu schaffen machte, denn später am selben Tag war Beltan verschwunden und Vani auch. Zweifellos vermisste Boreas seinen Neffen als fähigen Befehlshaber.
»Sie wollen den Runenbrecher finden«, hatte Mirda gesagt. »Sie werden ihn zurück nach Eldh bringen.«
Das Tor-Artefakt war zusammen mit Beltan und Vani verschwunden. Sie mussten eine Möglichkeit gefunden haben, es irgendwie zu aktivieren, und sie waren gegangen, ohne es jemandem zu sagen, auch wenn außer Frage stand, wo sie hingegangen waren. Beide liebten Travis Wilder. Sicherlich waren sie zu ihm gegangen, genau wie Mirda gesagt hatte.
Aryn seufzte, und sie war selbst in einer so düsteren Stimmung, dass auch sie kaum Appetit hatte. Lirith
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