Die letzte Rune 09 - Das Tor des Winters
weite Reise. Ich werde anderswo gebraucht.
»Aber wir brauchen Euch hier!«, sagte Aryn, und ihr Atem ließ die Scheiben beschlagen.
Mirdas Stimme war beruhigend, aber eisern. Nein, Schwester, das tut ihr nicht. Ihr und Lirith seid beide stärker, als ihr glaubt. Ihr reicht aus, um die vor euch liegenden Prüfungen zu bestehen.
Aryn glaubte, ihr Herz würde von Verzweiflung zerquetscht. Das konnte nicht passieren. Jeder war gegangen – Travis, Grace und Durge, Beltan und Vani –, und jetzt verließ sie auch Mirda. Sie drückte die rechte Hand gegen das kühle Glas. Aber warum müsst Ihr gehen?
Andere brauchen mich, und ich muss sofort zu ihnen. Aber fürchtet Euch nicht, Schwester. Ich glaube, dass wir uns wieder sehen, bevor das alles vorbei ist.
Es gab so vieles, das Aryn sagen wollte – wie sehr sie sich vor der Zukunft fürchtete, wie verloren sie sich vorkam und wie sehr sie Mirdas Kraft und Weisheit vermissen würde. Aber Traurigkeit schnürte ihr die Kehle zu, und trotz ihrer ganzen Macht konnte sie nur die folgenden Worte durch die Weltenkraft schicken: Möge Sia mit Euch sein.
Die Gestalt in dem grünen Umhang auf dem Burghof hob die Hand.
Das wird sie, Schwester. Das wird sie.
Die Gestalt wandte sich ab und glitt vom Hof, verschwand genau in dem Augenblick im Tor, in dem die Sonne den Horizont erklomm und den Himmel aus Blei in Kupfer verwandelte. Aryn schaute lange Zeit auf den leeren Burghof, dann zog sie sich an und ging, um Lirith zu erzählen, was geschehen war.
Die dunkelhaarige Hexe war nicht in ihrem Gemach, und auch Sareths Unterkunft war leer. Die beiden mussten bereits im Großen Saal beim Frühstück sitzen. Aryn machte sich dorthin auf den Weg, aber vor den Türen hatte sich eine Menge versammelt. Mehrere der Männer waren Anführer der Krieger von Vathris, und da waren Lord Farvel und andere Mitglieder des Königlichen Hofes, nur von Boreas war keine Spur zu sehen. Einige der Kriegsherren murmelten ärgerlich.
Als Aryn näher kam, löste sich Lord Farvel aus der Gruppe und hinkte ihr entgegen. Der alte Seneschall rang die Hände, sein Gesicht zeigte tiefe Sorgenfalten.
»Lord Farvel, was geht hier vor?«, fragte Aryn.
»Bitte, Euer Hoheit, Ihr dürft Euch keine Sorgen machen. Es geht ihm ganz gut – es ist nur ein Kratzer, mehr nicht. Er wird sich schnell erholen.«
Aryn packte seinen Arm. »Wovon sprecht Ihr, Lord Farvel? Ist etwas mit dem König?«
Er blinzelte. »Warum, nein, Euer Hoheit. Es ist nicht der König, es ist Prinz Teravian. Es ist ein Anschlag auf sein Leben erfolgt. Vor wenigen Minuten. Aber sorgt Euch nicht – wir werden denjenigen finden, der für diese schreckliche Tat verantwortlich ist.«
Aryn konnte ihn bloß anstarren, als hätte ihr jemand einen Hieb versetzt. Jemand hatte den Prinzen ermorden wollen? Aber wer? Und warum?
Ihr kam ein beunruhigender Gedanke. Mirda hatte das Schloss an diesem Morgen mit einer seltsamen Hast verlassen. Konnte das etwas mit dem zu tun haben, was dem Prinzen zugestoßen war?
Nein, sie hatte erst vor kurzem mit Mirda gesprochen; die Hexe war nicht mal in der Nähe von Teravians Gemach oder dem Großen Saal gewesen. Und sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass Mirda Pläne gegen den Prinzen schmiedete.
Und doch drehen sich Pläne der Hexen um Teravian, daran kann kein Zweifel mehr bestehen, nicht nach dem, was Ivalaine letztens im Garten gesagt hat.
Aber in den seitdem vergangenen Tagen war Aryn nicht an Ivalaine herangekommen.
»Kann ich ihn sehen, Lord Farvel?«
»Natürlich, Euer Hoheit«, sagte der Seneschall und ergriff mit gebrechlicher Hand ihren linken Arm. »Ihr müsst Euch ja schreckliche Sorgen um Euren zukünftigen Gemahl machen.«
Aryn zuckte innerlich zusammen. Sie hatte eigentlich daran gedacht, Teravian zu befragen, statt sich nach seinem Befinden zu erkundigen, aber das war schrecklich von ihr.
»Ja«, sagte sie, »ich sorge mich um ihn.« Und die Worte entsprachen sogar der Wahrheit, auch wenn es nicht unbedingt seine Gesundheit war, die ihr Sorgen bereitete.
Farvel führte sie an den versammelten Kriegern vorbei zur Tür.
»Sorgt Euch nicht, Euer Hoheit«, sagte Lord Petryen und legte ihr die Hand auf die Schulter. Petryen war der Herzog aus Eredane, der zu den Ersten gehört hatte, die Boreas' Kriegsruf gefolgt waren. »Ein Angriff auf den Sohn des Königs ist ein Angriff auf uns alle. Wir werden das nicht dulden.«
»Sicherlich ist der Prinz von Vathris gesegnet«, sagte der Mann an
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