Die letzte Rune 12 - Die letzte Schlacht
erste Mal gut sehen konnte. Selbst auf dem Stuhl sitzend war er noch groß, die langen Beine dem Feuer entgegengestreckt, eine große Hand ruhte auf dem Oberschenkel. Er trug noch immer Reitkleidung – eine figurbetonte Jacke, Kniebundhosen und Stiefel, alles in Schwarz –, und als ich näher kam, nahm ich den reichhaltigen Duft von Leder und Pferden wahr. Sein schwarzes Haar wurde von einem Band zurückgehalten, und der Feuerschein spielte auf einem bärtigen Gesicht, das zu stark und kantig war, um als schön bezeichnet werden zu können, das aber trotzdem eindrucksvoll war.
Als ich näher trat, richtete er den Blick auf mich – mit Augen, die so goldfarben wie Goldmünzen waren. Ich erstarrte, und erst da bemerkte ich, dass er etwas in der Hand hielt. Es war ein silbernes Tuch.
»Ich glaube, das gehört dir, James«, sagte er und hielt es mir entgegen.
Ich zögerte, dann trat ich vor und nahm es. Erleichterung durchflutete mich. Ich hatte schon befürchtet, es im Fieber-Wahn in dem Mietzimmer zurückgelassen zu haben.
»Pietro hat es unter deinem Hemd gefunden, als wir dich vor drei Nächten herbrachten. Ich fürchte, wir mussten deine Kleidung verbrennen. Aber nicht das hier.« Sein goldener Blick richtete sich auf mich. »Es wies weder Schmutz noch Risse auf.«
»Meine Mutter hat es mir gegeben.«
Er nickte, dann richtete er den Blick auf das Feuer, als wäre das alles gewesen, was er von mir gewollt hatte.
»Warum habt Ihr mich hergebracht, Master?«, stieß ich hervor.
»Kannst du lesen?« Er wandte den Blick nicht von dem Feuer.
Ich runzelte die Stirn, über die Frage verblüfft. »Ein wenig. Meine Mutter hat mir ein paar Wörter beigebracht, als ich noch jung war.«
»Gut. Dann sollst du lesen, James. Du sollst morgen beginnen. Pietro wird dir helfen.«
Da war noch so viel mehr, was ich ihn fragen wollte, aber er schien in seinen Gedanken verloren zu sein und starrte ins Feuer, und dann war Pietro da. Sanft, aber bestimmt führte er mich aus der Bibliothek. Er brachte mich in die Küche, und die Mahlzeit unterdrückte für eine Weile meine Neugier, aber sie flammte sofort wieder auf, als Pietro mich danach auf mein Zimmer führte.
»Warum will er, dass ich lese, Pietro?«, fragte ich, während er mir aus der Jacke half.
»In dieser modernen Zeit erwartet man von allen feinen jungen Lords, dass sie belesen sind«, erwiderte der grauhaarige Diener.
Aber das warf nur neue Fragen auf – ich war kein junger Lord –, und nachdem Pietro gegangen war und ich im Bett lag, überlegte ich, dass mehr hinter dem Befehl des Masters stecken musste. Es konnte nicht anders sein.
»Wenn er will, dass ich lesen soll«, sagte ich laut in die Dunkelheit hinein, »dann werde ich jedes Buch in der Bibliothek lesen.«
Das war leichter gesagt als getan. Der Unterricht meiner Mutter hatte mich nicht so weit gebracht, wie ich gedacht hatte. Ich kannte die Buchstaben, und auch wenn ich einfache Sätze lesen konnte, waren die Bücher in der Bibliothek des Herrenhauses doch voller langer und arkaner Wörter, die jenseits meiner Fähigkeiten lagen, sie aussprechen zu können, geschweige denn sie zu verstehen. Darüber hinaus konnte ich überhaupt nicht schreiben, nicht mal meinen eigenen Namen.
Pietro wurde mein Lehrer. Die Vormittage verbrachten wir im Schreibzimmer direkt neben dem großen Saal des Hauses oder an schönen Tagen draußen an einem Steintisch im Garten. Wir tranken Tee, den uns andere Diener des Haushalts brachten. Ich hatte noch nie zuvor Tee getrunken, und er schmeckte mir so gut, dass ich bald mein Verlangen nach Whisky vergaß.
Zuerst las ich eine englische Übersetzung von Vergil, einem Dichter, der vor langer Zeit in der großen Stadt Rom gelebt hatte. Pietro bewunderte ihn, da er selbst aus Italien kam, wie er mir verriet.
»Was ist mit dem Master?«, fragte ich ihn. »Kommt er auch aus Italien?«
»Lasst uns am Anfang anfangen«, sagte Pietro und schlug das Buch auf.
Zuerst war es sehr schwer, aber Pietro war ein geduldiger Lehrer, und bald schlug mich die Geschichte des Helden Aeneas in ihren Bann, und wie er tapfer vor Troja kämpfte und dann floh, nachdem Hektor ihm befahl, eine neue Stadt zu gründen, die später einmal Rom werden würde. Es faszinierte mich, wie ihm der Geist seiner Frau erschien, und mir gefiel besonders der Teil, in dem Aeneas nach Afrika fuhr und sich in Königin Dido verliebte, nur um sie zu verlassen, als die Götter ihn an seine Pflicht erinnerten, Rom zu
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