Die letzte Rune 12 - Die letzte Schlacht
tiefe und sanfte Stimme und weckte mich.
Ich fühlte ein Gewicht neben mir. Noch halb im Traum griff ich nach ihm, schob die Hand in sein Gewand. Er ergriff die Hand sanft, aber bestimmt und stieß sie weg. Ich war zu müde und zu traurig, um mich dagegen zu wehren. Ich wollte mich in ein Feuer legen, genau wie Königin Dido, und die wunderschönen Flammen meine Trauer wegbrennen lassen. Zum ersten Mal in meinem Leben, soweit ich mich erinnern konnte, weinte ich.
Ich leistete keinen Widerstand, als er mir einen Morgenmantel anzog und mich wie ein kleines Kind in mein Bett brachte. Er zog die Decke über mich, dann legte er mir die Hand auf die Stirn.
»Du bist mehr wert als das, James. Mehr wert, als du erahnen kannst.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Seine Worte erzeugten ein seltsames Gefühl in mir, als würde sich in meinem Inneren ein Fisch winden, schön und silbrig und funkelnd, aber viel zu schlüpfrig, um ihn festhalten zu können.
»Wer waren sie?«, sagte ich stattdessen. »Die gestern zu Besuch kamen?« Ich dachte an die goldenen Augen, die ich unter dem Schleier erspäht hatte. »Sie sind wie Ihr.«
Er schwieg einen langen Augenblick. »Ja«, sagte er. »Zumindest am Anfang. Aber jetzt? Ich glaube, wir sind nicht länger die Gleichen. Genau wie du nicht länger der bist, der du warst.« Er strich das Haar aus meiner Stirn. »Ich glaube, es wird Zeit, dass wir Abschied von James nehmen. Er hat dir gut auf den Straßen der Stadt gedient. Er war stark und schlau und mutig, aber du brauchst ihn nicht länger.«
Meine Tränen versiegten, und Staunen stieg in meiner Brust auf. »Wenn er fort ist, wer soll ich dann sein?«
»Ich glaube, du solltest Marius sein.« Er lächelte. »Ja, das ist ein schöner Name. Marius Lucius Albrecht.«
Die Trauer verschwand in der Dunkelheit. Frieden überkam mich. Ich war so müde, aber es war ein gutes Gefühl.
»Marius«, murmelte ich und schlief ein.
Auch wenn ich jetzt nur wenig darüber berichten muss, waren die folgenden fünf Jahre die glücklichsten und erfülltesten meines Lebens, sowohl seitdem wie auch jemals.
Den größten Teil meiner Tage verbrachte ich in dem angenehmen Inneren des Schreibzimmers des Herrenhauses, erlernte die Wunder der Sprachen und Mathematik, Geschichte, Musik, Dichtkunst und Philosophie, und mit dem Studium des Himmels. Zuerst war Pietro mein ständiger und geduldiger Lehrer, aber nach dem ersten Jahr arbeitete ich auch mit anderen Lehrern: gelehrten Männern und Professoren, die der Master nach Madstone Hall einlud. Sie kamen aus Edinburgh und Glasgow, manchmal sogar aus York oder London.
An einem Morgen im Frühling betrat ich das Schreibzimmer und musste entdecken, dass weder Pietro noch ein in eine schwarze Robe gekleideter Gelehrter auf mich warteten, sondern der Master selbst. Seine rechte, mit Ringen überladene Hand ruhte auf einem Buch. Es war ein dicker Band, eingebunden in abgenutztes Leder und mit verblichenen Symbolen geschmückt, deren Bedeutung ich nicht mal erahnen konnte, die mich aber trotzdem mit Erwartung erfüllten.
Der Hauch eines Lächelns umspielte den sonst so strengen Mund des Masters. Meine Aufregung war ihm nicht verborgen geblieben. »Pietro hat mir gesagt, dass du hervorragende Fortschritte in deinen Studien machst, Marius. Ich bin erfreut. Und ich glaube, du bist bereit, mit einem neuen Gebiet anzufangen – einem, das dich, wie ich glaube, sehr interessieren wird.«
In meinem Magen kribbelte es. Ich wusste nicht, was als Nächstes passieren würde, aber ich war davon überzeugt, dass es wunderbar sein würde. Er deutete auf einen Stuhl am Tisch, und ich setzte mich schnell hin. Während ich den Atem anhielt, öffnete der Master das Buch, und damit begann meine Unterrichtung in den arkanen Künsten.
Das Buch – das bis auf die geheimnisvollen goldenen Symbole auf dem Einband keinen Titel trug – enthielt viele Kapitel. An diesem Morgen fingen wir mit dem ersten an, in dem es um die Kunst der Astrologie ging, dann gingen wir im Laufe der Zeit zur Wahrsagerei, der Runenkunde, der Numerologie und anderen okkulten Wissenschaften über. So sehr mich diese Themen auch faszinierten, meine Blicke schienen immer vorauszueilen, die Dicke des Buches abzumessen und zu fragen, welche Künste die vergilbten Seiten des letzten Kapitels enthielten.
Es dauerte einige Zeit, bevor ich es herausfand. Wenn ich Morgens das Schreibzimmer betrat, fand ich oft Pietro oder einen der schwarz gekleideten
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