Die letzte Rune 12 - Die letzte Schlacht
entstanden; es konnte mir nicht helfen.
Ich hob die Phiole hoch und glaubte zu wissen, was sie enthielt. Es war Blut, das man den Schläfern entnommen hatte. Wer diese Wesen waren – wo sie herkamen und warum sie schliefen – wusste ich nicht. Ich wusste nur, dass die Philosophen ihr Blut getrunken und es sie verändert hatte, ihnen goldene Augen verliehen hatte. Und es hielt sie am Leben.
Die Phiole schien sich heiß in meiner Hand anzufühlen. Ich legte sie zurück in den Kasten, zusammen mit dem Tagebuch, und schloss ihn wieder in der Vitrine ein.
Ich führte meine Suche fort, hielt nach allem Ausschau, das mir helfen konnte – Briefe, Aufzeichnungen, Anmerkungen, die er vielleicht in Büchern an den Seitenrand geschrieben hatte. Bald hatte ich die Dienerschaft in Aufregung versetzt, denn sie hatten einen Raum noch nicht wieder ganz in Ordnung gebracht, wenn ich ihn schon wieder auf der Suche nach einem Hinweis auseinander riss. Aber da war nichts.
Aus Tagen wurde eine Woche, dann zwei. Ich schlief nicht, aß nicht und verspürte wieder das Verlangen nach Whisky. Die Diener ergriffen bei meinem bloßen Anblick die Flucht. Das Haus war zu einer Ruine geworden. Ich hatte bei meiner Suche Löcher in die Wände geschlagen und Bodenbretter aufgerissen, aber nichts gefunden, was von meinem Master stammte. Seine einzigen schriftlichen Unterlagen in diesem Haus waren die in dem alten Tagebuch …
Das Tagebuch. Mitternacht fand mich in seiner Bibliothek, wie ich das Tagebuch anstarrte. Ich hatte es erneut gelesen, aber dort stand das Gleiche wie zuvor: die närrischen Hoffnungen und Träume eines Mannes, der glaubte, Magie sei real.
Aber letztlich hatte er Recht behalten, oder?
Ich nahm die Phiole. Die goldene Spinne auf dem Verschluss funkelte im Kerzenlicht, der Rubin auf ihrem Unterleib schien mir zuzublinzeln. Dann, bevor ich es mir anders überlegen konnte, stöpselte ich die Phiole auf, führte sie an meine Lippen und kippte den Kopf zurück. Die Flüssigkeit rann heiß und dick meine Kehle hinunter. Ein wilder Schmerz durchtobte mich, dann war da nur Finsternis.
Am Morgen fand mich eine Dienerin auf dem Boden der Bibliothek liegend. Sie schüttelte mich an der Schulter, flehte mich an aufzuwachen, aber als ich endlich die Augen aufschlug, schlug sie die Hand vor den Mund, unterdrückte einen Schrei und ergriff die Flucht.
Ich zog mich hoch und sah mein Spiegelbild in der Glastür eines Schrankes. Verwirrte Augen starrten zurück, so golden wie Münzen. Bei allem, was heilig war, was hatte ich nur getan?
Ein seltsames Gefühl überkam mich. Ich fühlte mich nicht stärker, sondern schrecklich schwach, so als würde ich zum ersten Mal in meinem Leben die heranschleichende Hinfälligkeit spüren, den ununterbrochenen Verfall meines Körpers, die Wechselwirkung der Sterblichkeit. Und ich spürte ebenfalls, dass dieser tödliche Prozess für den Augenblick aufgehört hatte.
Ich rief nach den Dienern, sie sollten mir helfen, aber keiner kam. Am ganzen Leib zitternd, schleppte ich mich zum Schreibtisch und setzte mich. Mein Blick fiel auf das aufgeschlagene Tagebuch, und ich keuchte erstaunt, denn ich las Wörter auf dem Papier, die zuvor nicht da gewesen waren.
Ein Palimpsest – ich hatte davon gehört. Das waren doppelt beschriebene Bücher, die entstanden, wenn ein Mönch oder ein Schreiber ein altes Buch nahm, die Seiten mit Sand sauber schliffen und sie dann neu zurechtschnitten und -nähten, um ein neues Buch herzustellen. Aber manchmal konnte man im richtigen Lichteinfall die alten Wörter erkennen, die hinter den neuen zum Vorschein traten.
Das Tagebuch war wie ein Palimpsest. Aber man hatte die alten Wörter mühelos lesen können, und die neuen Wörter waren nur unter den richtigen Bedingungen zu sehen. Aber es war nicht das Licht, das sie zum Vorschein brachte sondern neue, goldene Augen. Sie schienen auf der Seite hell und strahlend zu tanzen, als wären sie in geschmolzenem Eisen geschrieben.
Da ich ein neues Leben begonnen habe, beginne ich auch mit diesem Tagebuch von vorn. Wir nennen uns die Philosophen, als wären wir weise genug, um alle Geheimnisse zu verstehen. Aber im Gegensatz zu den anderen weiß ich, dass es für uns noch viel zu erfahren gibt, dass das nur der Anfang ist …
Ich ergriff das Tagebuch und las. Im Haus herrschte völlige Stille; kein Diener störte mich. Als draußen das Tageslicht schwand, schloss ich das kleine Buch und vergrub das Gesicht in den Händen.
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