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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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undifferenzierter Gewalt in ein gezieltes Foltern des anderen überging. Er erlaubte sich dies nicht allzu oft – es gab auch selten die passenden Gegebenheiten –, aber wenn es dazu kam, erlebte er ein echtes Highlight. Ganz und gar würde er nie darauf verzichten können. Auch wenn ihn dies seinem Freund entfremdete. Er verstand nicht, weshalb sich Ron deswegen aufregte.
    Ein bisschen mehr Toleranz, alter Junge, dachte er oft, im Grunde sind das doch Peanuts. Kein Grund, uns zu zerstreiten.
    An diesem frühen Montagmorgen war er auf dem Weg zu Rons Wohnung in Islington. Lange vorbei die Zeit – leider! –, da sie beide sich eine Wohnung geteilt und eine perfekte Männer-WG gebildet hatten, garniert mit verschiedenen mal lang-, mal kurzlebigen Affären, hübschen, jungen Weibern, die lange Haare und üppige Brüste hatten und schnell kapierten, dass sie sich unterzuordnen hatten, wollten sie sich nicht mit gebrochener Nase oder ausgeschlagenen Schneidezähnen wiederfinden. Pit liebte es, Frauen einzuschüchtern. Es gefiel ihm, wenn sie flackernde Augen und Piepsstimmen bekamen. Frauen, hatte er herausgefunden, verfügten über einen weit besseren Instinkt als Männer. Er hatte selten eine Frau erlebt, die ihn, Pit, unterschätzt hätte. Mit Männern passierte ihm das ständig. Es hing mit seiner Größe von einem Meter dreiundsechzig zusammen. Die Männer glaubten, er sei ein Zwerg, ein Niemand, einer, der sich aufplusterte, hinter dem aber nichts steckte. Das hatte natürlich seinen ganz eigenen Reiz. Er war viel stärker und brutaler, als sie es je für möglich gehalten hätten, und bis sie es kapierten, steckten sie hoffnungslos im Schlamassel. Er genoss zutiefst den Moment, in dem er an ihren Gesichtern ablesen konnte, dass sie ihren Fehler begriffen und es heftig bedauerten, sich mit ihm angelegt zu haben.
    London war an diesem Morgen wie immer mit tosendem Verkehrslärm erwacht, mit Millionen von Menschen, die sich über Plätze, Straßen, U-Bahnhöfe ergossen. Tausende von Stimmen, dazwischen Autohupen, kreischende Bremsen, aufheulende Motoren, Fahrradklingeln. Montags war die Stadt besonders laut, besonders voll, besonders lebendig. Herrlich, dieses hektische Leben und Treiben. Dazu noch ein leuchtend blauer Himmel, der den Frühling ankündigte. Endlich Schluss mit Schneeregen und Nebel. Nun begann die schöne Jahreszeit.
    Er bog um die letzte Ecke, die ihn noch von dem Hochhaus getrennt hatte, in dessen Erdgeschoss Ron eine Wohnung hatte, und er kam auf die Minute richtig, um zu sehen, wie Ron aus der Haustür trat – die Hände auf dem Rücken, rechts und links flankiert von zwei Bullen. Ein Polizeiauto wartete bereits, daneben standen zwei weitere Beamte.
    Es war nur allzu offensichtlich: Ron Malikowski, der schon jede Menge Gefängniszellen und Gerichtssäle von innen gesehen hatte, aber noch nie wirklich lange im Bau hatte schmachten müssen, wurde gerade verhaftet.
    An diesem sonnigen, vielversprechenden Morgen.
    Scheiße! Was war passiert?
    Pit wich sofort wieder hinter die Ecke zurück, sehr schnell realisierend, dass es äußerst unklug wäre, sich dort jetzt blicken zu lassen. Automatisch griff er nach der Waffe, die in seinem Gürtel steckte und die er häufig mit sich führte, wenn er nach draußen ging, aber er zog die Hand gleich wieder zurück. Im Film hätte er jetzt wahrscheinlich wild herumgeballert und seinem Kumpel einen Fluchtweg freigeschossen, aber in Wahrheit tat man etwas so Sinnloses und Gefährliches natürlich nicht. Stattdessen überlegte er fieberhaft. Was konnte passiert sein? Weshalb setzten die Scheißbullen Ron fest? Auch wenn ihre Freundschaft nicht mehr so war wie einst, sie waren doch weitgehend über alles informiert, was der jeweils andere gerade so trieb. Genauer gesagt: in welche Art krimineller Aktivitäten er verwickelt war. Und nach allem, was Pit wusste, stand bei Ron nichts konkret an. Ron war mit den Jahren deutlich zahmer geworden, das musste man leider sagen. Er verdiente sein Geld noch immer mit Prostituierten, und es ging dabei auch um Mädchen, die aus Osteuropa eingeschleust wurden und gegen ihren Willen dem Gewerbe nachgingen. Aber schon lange hatte es keinen Neuzugang gegeben, jedenfalls nichts über Rons Verbindung. Die Frauen, die für ihn arbeiteten, hatten sich irgendwie mit ihrem Schicksal abgefunden. Für die meisten war es immer noch besser als das Leben in dem Dreck, aus dem sie kamen, jedenfalls behauptete Ron das immer. Unwahrscheinlich,

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