Die letzte Zuflucht: Roman (German Edition)
gewesen. Der kleine Andre war noch ein Baby gewesen, als alles den Bach hinuntergegangen war. Als Rosa den Vorschlag gemacht hatte, dass Andre im richtigen Alter wäre, um lesen zu lernen, hatte seine Mutter die Schultern gezuckt und nur »Warum?« gefragt.
Nicht dass es jetzt noch eine Rolle spielte. Die beiden waren nicht mehr da, wie so viele andere.
»Lasst ihn näher herankommen«, sagte Rosa.
Sie trat hinter ihren Wachen hervor und ging zum Tor. Anführer trafen selbstbewusste Entscheidungen. Wenn der Mann Ärger gewollt hätte, hätte er schon welchen gemacht. Ihre Welt war zwar mittlerweile von Misstrauen geprägt, aber zugleich von raschem Handeln. Valle gewährte allen Menschen Zuflucht.
Wir sind jetzt eine aussterbende Art.
»Wie heißt du?«, fragte sie.
»Chris Welsh.«
Rosa musterte ihn prüfend: Alles an ihm erzählte eine Geschichte. Goldbraune Augen in einem schmalen sonnengebräunten Gesicht mit etwas asymmetrischen Zügen und welliges braunes Haar verrieten den Weißen. Der Vollbart deutete darauf hin, dass er sich abseits dessen aufgehalten hatte, was jetzt als Zivilisation durchging, was wiederum für sein Selbstbehauptungsvermögen sprach. Seine abgenutzten Stiefel zeugten von einer langen Wanderung. Es überraschte sie selbst, dass ihr sein Mund und der attraktive Schwung seiner Unterlippe auffielen. Er roch nach Salbei, Schweiß und Wüstenwind.
Außerdem hatte er sich mit Brick angelegt und gewonnen. Ein solcher Mann konnte nützlich sein, ganz gleich, was von seiner Behauptung zu halten war, dass er Arzt sei.
Ihre Analyse dauerte nur wenige Sekunden, aber Chris schien gar nichts davon zu bemerken. Er war zu beschäftigt damit, die Peitsche anzustarren. Rosa lächelte. Sie hatte eben diese Wirkung auf Männer.
»Ist das Blut auf deinem Hemd?«, fragte Brick.
Welshs Miene nach zu urteilen hatte er sich schon das Gleiche gefragt.
Rosa sah an sich hinunter. Niemand konnte zehn kräftige Peitschenhiebe austeilen, ohne ein wenig bespritzt zu werden. »Es hat nach unserer Rückkehr ein bisschen Ärger gegeben.«
»Ist mit Singer alles in Ordnung?« Bricks erste Sorge galt immer seiner Schwester.
Das würde kein Spaß werden.
»Es geht ihr gut, sie ist bloß ein bisschen verstört.« Rosa legte dem großen Mann eine Hand auf die Brust. Es war nicht ihre Kraft, die ihn aufhielt, sondern ihre Autorität. »Ich habe mich darum gekümmert.«
»Wer war es?«
»Lem. Keine weiteren Vergeltungsmaßnahmen, verstanden?«
Brick biss die Zähne zusammen und ballte zugleich die Finger zu Fäusten. »Ich halte mich an die Regeln.«
»Dann geh ruhig zu Singer. Sie braucht deine Fürsorge jetzt.«
»Hat er …«
»Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Nein, das schwöre ich dir. Wenn er das getan hätte, wäre er nicht mit einer Auspeitschung davongekommen.«
Der bullige Bravo nickte grimmig.
Rosa wandte sich an den Fremden, die Finger immer noch um die Lederschlingen ihrer Peitsche gelegt. »Ärger oder kein Ärger? Deine Entscheidung.«
»Kein Ärger.«
Er steckte zwar seine Beretta nicht weg, zog aber dafür einen Schlüsselbund aus den Jeans und gab ihn Brick zusammen mit dem Colt und der Gewehrtasche zurück. Gegen ihren Willen war Rosa schon wieder beeindruckt.
»Ich habe es ihm versprochen«, sagte Chris schlicht.
Brick stieg aufs Motorrad, fuhr die staubige Straße entlang und ließ Rosa mit dem Streuner zurück, der ihm in der Wüste zugelaufen war. Sie legte den Kopf schief und wartete ab. Schweigen verriet einem sehr viel über einen Menschen. Manche verloren die Nerven und plapperten drauflos. Andere wurden zudringlich. Dieser hier aber musterte sie nur von Kopf bis Fuß. Nicht herausfordernd. Nur … aufmerksam .
»Du bist der Boss hier.«
»Ich bin Valle de Bravo«, erklärte sie ihm. »Rosa Cortez.«
Sie streckte ihm nicht die Hand hin, damit er sie schütteln konnte. Das hätte schließlich signalisiert, dass sie gleichrangig waren. Wenn er sich als würdig erwies, konnte er vor ihr niederknien und ihr als Bravo Treue schwören. Wenn nicht, dann konnte er weiterziehen.
»Es ist eindrucksvoll, was du hier geschaffen hast«, sagte er. »Ich bin schon höllisch lange unterwegs und habe noch nie etwas Vergleichbares gesehen.«
Das erregte ihre Aufmerksamkeit. Wenn er weite Landstriche durchquert hatte, hatte er vielleicht Neuigkeiten gehört. Es war ja nicht so, dass sie einfach ein Radio einschalten und die Nachrichten hätten hören können: Und die fahrenden
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