Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Letzten ihrer Art 02 - Der letzte Ork

Die Letzten ihrer Art 02 - Der letzte Ork

Titel: Die Letzten ihrer Art 02 - Der letzte Ork Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvana de Mari
Vom Netzwerk:
den Orten, wo man sie weggejagt hatte, er nannte alle beim Namen, schilderte einen nach dem anderen und Rankstrail hörte die Geschichte wie zum ersten Mal, gespannt, mit der ganzen Erwartung und der ganzen Enttäuschung. Dann kam die Schilderung von Varil, stark wie ein Falke, schön wie ein Pfau; wie sich der Hügel, auf dem die Stadt lag, zum ersten Mal ihren Blicken dargeboten hatte, die einzige Erhebung in einer grenzenlosen Ebene, die sich nach allen Seiten schier endlos bis zum Horizont dehnte, außer im Westen, wo sie von den Dunklen Bergen begrenzt wurde. An dieser Stelle holte der Vater Luft, lächelte ihn an und begann dann zu erzählen, wie sich Varil hochmütig und stolz inmitten seines dreifachen, zyklopischen Mauerrings erhob, oben auf dem Hügel, auf dessen Terrassen teils Reisfelder, teils Orangen- und Olivenhaine angelegt waren, die im Norden übergingen in einen dichten Wald aus Steineichen und Myrten, wo gemächlich fette weiße Kühe weideten. Alles wurde geschildert, jede Einzelheit wiederholt, jedes Detail betrachtet. Rankstrail hätte nur den Kopf zu heben brauchen, um selbst die Bögen und Strebepfeiler zu sehen, aber er fand sie lieber in den Worten des Vaters wieder. Es war, als ob sich drei geometrische Gebilde, eins aus Stein, eins aus Schatten und eins aus Worten, überlagerten und miteinander verflechten würden. Der Vater kannte die Bogenformen: Sein Großvater, ebenfalls Holzschnitzer, hatte sie ihm als Dekorationselemente beigebracht. Er erzählte Rankstrail von seiner Bewunderung und seinem Erstaunen, als er hoch droben im inneren Kern der Stadt die Rundbögen der zweiten Runenzeit erkannt hatte, während die Wachtürme in den drei Mauerringen durch die abgestuften Spitzbögen der dritten Runenzeit miteinander verbunden waren, was den Bogenschützen und Boten erlaubte, während einer Belagerung schnell von einem Stadtbezirk in den anderen zu gelangen, sollte dieser höchst unwahrscheinliche Fall denn je eintreten. Während der Vater erzählte, sah Rankstrail nach oben und betrachtete die Bögen, die sich kreuzten, Licht und Himmel in komplizierte geometrische Figuren aufteilten, die dicht von Wein, Efeu und blühenden Glyzinien überwuchert waren und, ineinander verschachtelt, bunte Halbkreise bildeten, ähnlich dem Gefieder eines großen, prächtigen Vogels, der auf den Mauern saß wie in seinem Nest. Aber der beste Teil der Erzählung, der ihm immer wieder Herzklopfen machte, auch wenn er ihn schon unzählige Male gehört hatte, war der Schluss: die ängstliche Erwartung, er und Mama mit bangem Herzen, als der Blick des Soldaten auf sie fiel, und das Erstaunen, Achtlosigkeit und Gleichgültigkeit darin zu erkennen – man würde sie nicht abweisen, man hatte sie nicht abgewiesen. Sie wurden nicht fortgejagt. Sie waren gerettet. Rankstrail lachte glücklich, und anstatt sich wie sonst darauf zu beschränken, vor Freude in die Hände zu klatschen, kommentierte er alles durch ein wiederholtes »Schön«, genauer gesagt »Schschön«, wie eine Art Refrain.
    Die Freude von Vater und Mutter war überwältigend. In seiner Begeisterung versprach sein Vater ihm ein Spielzeug: Was für ein Spielzeug sollte er ihm machen? Rankstrail brauchte nicht nachzudenken. Wieder sah er sich selbst als Reitersoldat, mit einem Schwert in der Hand und Nerella unter dem Arm, während er sämtliche Mütter und Hühner auf der Welt gegen sämtliche Orks auf der Welt verteidigte.
    »Sch’ert«, rief er freudig. »Sch’ert schschön!«
    Er bereute es sofort: Wieder war die Fröhlichkeit untergegangen wie eine Fliege in der Suppe und hauchte zwischen den zusammengepressten Lippen der Mutter und unter dem besorgten Blick des Vaters ihren Geist aus.

Kapitel 2
    Zum Glück war da der Honig.
    Die Fröhlichkeit kam wieder.
    Andächtig wie einen Reliquienschrein öffneten sie das Glas und Mama träufelte ein wenig von seinem Inhalt auf ein Stück Fladenbrot, wie ein magischer Strahl aus Süße und Licht floss der Honig, süß und hell wie ihr Lächeln.
    In dem Glas war eine komische tote Fliege eingeschlossen, riesig und mit gelben und schwarzen Streifen. Sein Vater erklärte ihm, das sei eine Biene, und erzählte ihm, es seien die Bienen und nicht die Götter, wie Rankstrail zunächst angenommen hatte, die den Honig produzierten. Die Mutter erzählte von der Dame, wie sie imstande sei, Kraft und Höflichkeit zugleich auszustrahlen, von den Perlen, mit denen ihr Kleid und ihre Haare besetzt waren, und so erfuhr

Weitere Kostenlose Bücher