Die Letzten ihrer Art 02 - Der letzte Ork
Ort verfügen könntet, wo sie meinen Blick weniger stört.«
Nachdem er seinen neuen Soldaten, den direkten Nachfahren in dritter Generation von Baldoswin dem Vierten, für den zweiten Wachturnus der Nacht auf den Wehrgängen eingeteilt hatte, entfernte sich der Hauptmann. Er durchquerte den zweiten Innenhof, den früheren Appellplatz, wo sämtliche Flüchtlinge untergebracht waren.
Der Hof war erfüllt von den Wehklagen der Geflohenen aus der Tiefebene und aus dem Osten, vom Gespaltenen Berg bis nach Daligar.
Es gab keine Tränen mehr.
Sie waren ausgegangen, zusammen mit den letzten getrockneten Kastanien. Die Verzweiflung war umgeschlagen in dumpfe Trauer.
In leiernden Sprechgesängen erinnerten Männer und Frauen an die Namen ihrer Toten, diejenigen, die in den Razzien an den Grenzen getötet worden waren, und diejenigen, die auf dem langen Weg ins Exil umgekommen waren.
Sie sagten, was man immer von den Toten sagt: Wie tüchtig sie waren, wie anständig, wie sehr sie ihnen fehlten. Leiser und kläglicher hoben sodann die Litaneien an, worin an die Ziegen, Kaninchen, Gänse und auch an die Hühner erinnert wurde, die von den Äxten und Schwertern der Eindringlinge geschlachtet worden waren, und der Schmerz war kaum geringer als bei der Erinnerung an die Angehörigen. Wie die Flügel der Erinnyen erhoben sich Klage und Wehklage über die Erinnerung und das verzweifelte Heimweh nach dem, was verloren war, wozu die Rebstöcke gehörten, die Tomatenstauden, die Gemüsegärten, derer ebenfalls gedacht wurde. Auch die Ziegen, Kaninchen, Gänse und Hühner, ja sogar die Gärten, sie alle hatten Namen gehabt, die man jetzt in Erinnerung rief, und auch ihr Tod bedeutete Verzweiflung, denn das erhöhte unter den noch lebenden Kindern die Zahl derer, die der Winter, die Schwindsucht und der Aussatz hinwegraffen würden, auch wenn jemand das Wunder vollbringen sollte, sie vor den Orks zu retten.
Lang hörte Rankstrail zu, dann hielt er es nicht mehr aus. Er stieg die steinerne Treppe zu den Gemächern der Königin hinauf. Er ging unter einer langen Pergola mit üppig blühenden Glyzinien entlang; hätte man seinerzeit hier Bohnen gepflanzt, überlegte er sich, dann gäbe es jetzt etwas zum Verteilen.
Die Nacht war hereingebrochen und die Königin hatte sich in den Saal neben dem Thronsaal zurückgezogen, sie saß an dem großen runden Eichentisch, um den sich der Große Rat der adeligen Granden hätte versammeln müssen, wenn die adeligen Granden nicht in die Berge des Nordens gezogen wären, um dort ihren Großen Rat abzuhalten. Es war ein schwerer Tisch aus zwei Spannen dicken Bohlen, die von massiven silbernen Beschlägen zusammengehalten wurden.
Bei ihr saßen der Seneschall und der Hofmeister des Königlichen Hauses, alle drei starrten ins Leere, wie Menschen, die nichts anderes zu tun haben, als abzuwarten, dass die Zeit vergeht, bis zu dem Moment, da die Tage zu Ende sind und man sterben darf.
»Meine Herrin«, sagte Rankstrail, »die Flüchtlinge aus dem Süden sind verzweifelt und haben Hunger.«
Die Königin antwortete nicht und rührte sich nicht. Sie blickte weiterhin ins Leere.
»Verzeiht, Herrin«, fuhr Rankstrail fort. »Habt Ihr Gold?«
Die Königin hob den Kopf und sah ihn erstaunt an.
»Der Verwaltungsrichter hat dafür gesorgt, dass der Goldschatz der Grafschaft nach Alyil geschafft wurde«, antwortete an ihrer Stelle der Seneschall. »Aber er hat drei Kisten Silbermünzen zurückgelassen, weil auf den Karren kein Platz mehr dafür war.«
»Die könnten wir an die Flüchtlinge verteilen«, schlug Rankstrail vor. »Und auch an die anderen, die Handwerksmeister, die Diener, Wäscherinnen, Holzfäller, an alle.«
»Silber kann man nicht essen, Hauptmann, und in einer belagerten Stadt gibt es auch nichts zu kaufen. Niemand verkauft etwas.«
»Sie werden die Hoffnung kaufen.«
Der Blick der Königin belebte sich, er wurde hellwach. Sie begann zu verstehen.
»Wenn wir das Silber verteilen, so bedeutet das, dass wir die Belagerung morgen durchbrechen. Früher oder später wird es etwas zu kaufen geben, und das Silber ist dazu da, es zu kaufen«, erklärte Rankstrail. Er sprach langsam, setzte seine Worte mit Bedacht, aus seiner langjährigen Erfahrung mit Elend und Armut schöpfend. »Hoffnung ist das Einzige, was den Hunger überlistet. Die Hoffnung macht fast so satt wie Bohnen.«
Die Königin-Hexe sah ihn lange an.
»Das stimmt!«, erinnerte sie sich. »Die Hoffnung macht fast so satt wir
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