Die Letzten ihrer Art 02 - Der letzte Ork
Beute einen Augenblick früher wahrnahm als die anderen. Die Gabe, Dinge vorherzuwissen, weshalb er damals gewusst hatte, was in dem Glas Honig war, zeigte sich in seinem Leben bei keiner Gelegenheit deutlicher, als wenn er eine Waffe in Händen hielt. Er wusste einen Augenblick im Voraus, wo das Tier auftauchen würde, dem es bestimmt war, seine Beute zu werden.
Während der langen Wintermonate, die der Verrückte Schreiber nur deshalb überlebte, weil Rankstrail Reisigbündel zum Feuermachen für ihn eintauschte, erklärte er ihm zwischen einem Niesen und dem nächsten, dass in Daligar wie in Varil der König teils durch Geburt, teils durch Wahl bestimmt wurde. Als Wähler wie als Kandidaten zugelassen waren nur die Angehörigen der großen Adelsfamilien. Oft, aber nicht immer und nicht notwendigerweise, wurde der Sohn des vorherigen Königs zum König gewählt. Hatte ein Herrscher einen männlichen Nachkommen, so wurde dem im Allgemeinen der Vorzug gegeben, außer er hatte schon Anlass zu Vorbehalten gegeben oder jemand anderer hatte sich durch besondere Verdienste ausgezeichnet. Arduin war eine Ausnahme gewesen, er war als General einstimmig zum König gewählt worden, weil er die Orks verjagt und das, was von der Stadt übrig war, gerettet hatte, nachdem der regierende Herrscher sie verlassen hatte und in die unzugängliche Falkenstadt Alyil in den Bergen des Nordens geflüchtet war. Arduin entstammte nicht dem städtischen Adel und seine Nachkommen wollten diesem auch nie angehören, sie mischten sich wieder unters Volk.
Nach Arduin war alles in einem Sumpf der Unfähigkeit untergegangen. Statt zu entscheiden, wer würdig war, gewählt zu werden, suchte man sich lieber denjenigen heraus, der einfach nur durchschnittlich war und nicht ganz so schlecht, der nicht offensichtlich unfähig war, und den wählte man dann. Durchschnittlichkeit wurde zum Verdienst, Unfähigkeit die Regel.
Die Grafschaft versank in ungelösten Problemen, vorhersehbaren und vermeidbaren Katastrophen, die sich pünktlich immer wieder einstellten, so regelmäßig wie die Jahreszeiten. Als im Frühjahr dann die Sonne wieder schien und in der Wärme des keimenden Lebens aus Millionen von Eiern die Mücken krochen, erklärte der Verrückte Schreiber, dass durch die fehlende Instandhaltung der Bewässerungskanäle und bei den spärlichen Niederschlägen jeden zweiten Sommer eine Dürre eintrat; oder dass ohne Rodung des Unterholzes eine Masse von Ästen und Abfällen das Flussbett des Dogon verstopfte, sodass die Regenfälle im Herbst jedes zweite Jahr zu Überschwemmungen führten. In den Wintermonaten, wenn die Glut auch in den kältesten Stunden der Nacht und des Schlafes im Herd weiterglomm, konnte es vorkommen, dass Funken an die Wände flogen und dort das Stroh in Brand setzten, das man in die Ritzen zwischen den schlecht zusammengefügten, morschen Balken gestopft hatte. In den ärmeren Dörfern standen die Häuser dicht nebeneinander, zu armselig, um Platz zu beanspruchen. Mit rasender Geschwindigkeit breiteten die Flammen sich hier aus, flogen wie die Engel der Zerstörung von Haus zu Haus, sodass die Überlebenden, wenn sie am nächsten Morgen die Toten zählten und die verkohlten Reste sichteten, sich nicht damit begnügten, mit dem Schicksal zu hadern, sondern nach den Verursachern fragten. Zur Erklärung der Katastrophen wurden die Elfen und ihre Zauberkräfte angeführt oder die Bosheit der Hexen, denen in ihrem unersättlichen Drang, den Menschen Leiden zuzufügen und sie zu verhöhnen, Dürre, Überschwemmungen und Elend nicht genügten. Und jedes Mal schwor das Volk der Menschen denen, die bösen Zauber und Fluch gewirkt hatten, Rache und Vergeltung mit Feuer und Schwert. Mit Feuer, Schwert und Qualen.
Im Sommer schließlich, als Hagelstürme und brütende Hitze einander ablösten, erklärte das Männlein, wie es dem Inquisitor der Stadt, Erligno, einem großen Elfen- und Hexenjäger, endlich gelungen war, nachdem eine Reihe von Herrschern beharrlich in Dummheit und Unfähigkeit gewetteifert hatten, auch das militärische Oberkommando und die Aufsicht über die Verwaltung unter seine Amtsgewalt zu bringen, obwohl der letzte König, Aturdo der Fünfte, noch am Leben war.
Nach dessen Tod war Erligno so klug, sich Verwaltungsrichter zu nennen, ein etwas weniger furchteinflößender Titel als Inquisitor, und er übernahm die absolute Herrschaft. König konnte er nicht werden: Seine Grausamkeit war schon zu bekannt, als dass er
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