Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)
Seiten. Manchmal sogar mehr. Anfang des Jahres 2013 veröffentlichte das medizinische Fachblatt »Lancet« mehrere Studien zu den »gesundheitlichen Auswirkungen der Krise in Europa«. Dazu gehört auch ein Anstieg der Selbstmordraten bei unter 65-Jährigen seit 2007. »Die Zunahme steht in direkter Verbindung mit Arbeitslosigkeit und drohendem Stellenverlust«, behauptet der Mediziner Martin McKee vom »Europäischen Observatorium für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik«. In Griechenland habe man zudem eine »Zunahme von psychischen Störungen« festgestellt. Dagegen sei in einigen Ländern die Zahl der Verkehrsunfälle zurückgegangen, weil die Autofahrer auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen mussten oder einfach weniger unterwegs waren. In Spanien habe dies freilich zur Folge gehabt, dass auch die Zahl von Organspenden rückläufig war.
Eine klare Kausalkette: weniger Arbeit, weniger Geld, weniger Verkehr, weniger Verkehrstote, weniger Organspenden. Allerdings: mehr psychische Erkrankungen und mehr Selbstmorde. Gesundheitspolitisch mag es sich um ein Nullsummenspiel handeln, bedenkt man aber, wie viele Existenzen und Menschenleben im Zuge der »Krise« vernichtet oder ruiniert wurden und noch werden, bekommt der Satz von Bundesfinanzminister Schäuble »Wir leben in einer sehr glücklichen Zeit« einen bitteren Beigeschmack. Und wenn ein angesehener spanischer Ökonom in einer angesehenen spanischen Tageszeitung schreibt: »Wie Hitler hat Angela Merkel dem Rest des Kontinents den Krieg erklärt, diesmal, um sich wirtschaftlichen Lebensraum zu sichern«, dann ist das zwar kompletter Unsinn, aber es relativiert das Vaterunser der »engagierten Europäer«, die EU sei der ideale Rahmen für ein friedliches Zusammenleben der Völker, eine Garantie gegen Nationalismus, Hass und zentrifugale Tendenzen.
Zu einem friedlichen Zusammenleben gehört mehr als nur die Möglichkeit, mit Spaniern in Berlin wohnen, mit Franzosen in Kopenhagen studieren, polnisches Bier trinken und britische Magazine lesen zu können. So wie die EU derzeit funktioniert, bringt sie die Völker nicht zusammen, sondern treibt sie auseinander; der wahnwitzige Versuch, die Lebensverhältnisse in 28 Ländern zu homogenisieren, hat dazu geführt, dass der Abgrund, der überbrückt werden sollte, immer breiter und tiefer geworden ist. Hat man noch vor kurzem jene Polen bedauert, die nach Mecklenburg-Vorpommern reisen mussten, um für einen Stundenlohn von fünf Euro Spargel zu stechen, so hoffen heute Tausende von spanischen, griechischen, italienischen und portugiesischen Akademikern, wenigstens einen Job als Kellner oder Taxifahrer in Deutschland zu bekommen. Derweil die Deutschen darüber staunen, wie schnell Liebe in Hass umschlagen kann, sobald José und Juanita, die in Palma für jeden Euro Trinkgeld dankbar waren, erfahren, dass sie in Traben-Trarbach und Wanne-Eickel nicht willkommen sind.
Es entstehe »der Eindruck«, schreibt Clemens Wergin in der »Welt«, »man habe es mit einer Elitenverschwörung gegen den gesunden Menschenverstand zu tun«. Es ist aber nicht nur »ein Eindruck«, es ist die Realität, wenn wir »Verschwörung« nicht als einen Masterplan, sondern als das Ergebnis omnipotenter Phantasien impotenter Bürokraten verstehen.
Der Brüsseler EU -Adel lebt und arbeitet auf einem eigenen Planeten, weitab vom Rest der Welt. Wenn der für Umweltschutz zuständige EU -Kommissar in einem Dienst-Audi mit Fahrer von Brüssel nach Straßburg rollt, weil er sich eine Reise mit dem Zug nicht zumuten möchte, und wenn er in seinem Straßburger Hotelzimmer beim Duschen, während er sich einseift, wirklich das Wasser abstellt, weil in der Sahel-Zone das Wasser knapp ist, dann muss irgendetwas ganz furchtbar schiefgegangen sein. Entweder der Kommissar hat nicht alle Speichen am Rad oder er hat sich daran gewöhnt, dass man alles, was er sagt, für bare Münze nimmt, weil er ein Kommissar ist, der Zuständigkeit mit Kompetenz verwechselt.
Unter den neuerdings 28 EU -Kommissaren, die für alles Mögliche zuständig sind – seit 1. Juli ist der Kroate Neven Mimica für »Verbraucherschutz« zuständig –, gibt es auch einen, der das Ressort »Beschäftigung, Soziales und Integration« betreut. Es ist der Ungar László Andor, Doktor der Wirtschaftswissenschaften. In seinem »Kabinett« beschäftigt er 26 Mitarbeiter, von denen, den Namen nach zu urteilen, jeder zweite ebenfalls aus Ungarn kommt. Besucht man seine Homepage, findet
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