Die letzten Tage Europas: Wie wir eine gute Idee versenken (German Edition)
Wahrheit stimmt das aber nicht, weil Zahlen sind nur ein Aspekt der Wirklichkeit. Das sind Leute, die tun, als könnte man Wirklichkeit ausrechnen, und wenn ich eine Rechnung habe, die ich darstellen kann, die mathematisch korrekt ist, spiegelt (sie) die Wirklichkeit wieder. Und wenn ich die in der Hand hab, dann mach ich euch alle anderen platt. Ein guter Politiker müsste diese Zahlenmagie und Zahlenillusion wegfegen und sagen: Du mit deinen Zahlen, du bist irgend so ein Spasti, du verstehst überhaupt nicht, was los ist, du begreifst die Welt gar nicht, du konzentrierst dich auf deine Zahlen, aber deine Zahlen lügen, du bist in Wahrheit ein Zahlenlügner. Und dafür braucht man einen gewissen Mut, und man muss auch den Mut zum Pathos haben und den Mut zum politischen Pathos, und das trauen sich die Leute heute nicht mehr, weil wir in einer Zivilisation leben und in einer Kultur, die sehr zahlengläubig ist, wir vertrauen in ganz vielen Bereichen auf die Zahlen. Aber wenn es um Politik geht, dann sind Zahlen nicht ausreichend, und das traut sich einer nicht mehr zu sagen …«
Außer Jakob Augstein, der nicht nur eine Abneigung gegen Zahlen, sondern auch gegen »Spastis« hat, die mit Zahlen hantieren. Zahlen geben in der Tat nie die ganze Wirklichkeit wieder, aber das ist eine solche Binse wie die Feststellung: Geld macht nicht glücklich, kein Geld aber auch nicht. Nur jemand, der Lokale frequentiert, die ein Tagesgericht für 44,50 Euro anbieten, kann sich eine solche Verachtung für Zahlen leisten. Aber auch nicht immer. Als Jakob Augstein gewahr wurde, dass sein »Freitag« tiefrote Zahlen schreibt, hat er neun der 40 Mitarbeiter entlassen, um die Verluste zu begrenzen.
Hätte ihn daraufhin jemand einen »Zahlenpopulisten« geschimpft, einen »Spasti«, der die Welt nicht begreift, einen »Zahlenlügner«, wäre er sicher sehr, sehr ungehalten geworden. Geht es aber um die »Einheit Europas«, spielen Zahlen plötzlich keine Rolle. Denn es ist, wie die Amis sagen, OPM : »Other People’s Money«, das Geld anderer Leute. So argumentieren vor allem Zeitgenossen, die sich im selben Atemzug darüber aufregen, dass im Kapitalismus Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Sauerei, so was! Ich bin von solchen janusköpfigen Argumenten fasziniert wie von einem Sanitäter beim Arbeiter-Samariter-Bund, der sich bei Vollmond in einen Werwolf verwandelt.
Es ist nicht die Inkohärenz an sich, die mich fasziniert, sondern die Chuzpe, mit der sie vorgetragen wird. So als würde niemand die eingebaute Heuchelei bemerken. Das Wort »Eu-ro-pa« entfaltet eine bewusstseinsbenebelnde Wirkung, die weit über den von Augstein geforderten »Mut zum politischen Pathos« hinausgeht. Die Grenze zum Übermut hat Altkanzler Schmidt bei Maybrit Illner souverän überschritten, als er erklärte, die Deutschen wären mehr als andere Völker für Europa verantwortlich, »weil wir sechs Millionen jüdische Mitbürger fabrikmäßig umgebracht haben«. Nicht dass Schmidt gesagt hätte, die Deutschen wären mehr als andere Völker für die Sicherheit Israels verantwortlich, nicht dass er vorgeschlagen hätte, Deutschland sollte sich im Europarat für eine Anerkennung der Hisbollah als terroristische Organisation einsetzen, nicht dass er überhaupt etwas von Belang gesagt hätte – er hat sechs Millionen tote Juden zu deutschen Mitbürgern ernannt, um Deutschlands besondere Verantwortung für Europa zu unterstreichen. Und hätten »wir« nicht sechs, sondern nur drei Millionen Juden fabrikmäßig umgebracht, würden »wir« nur den halben Betrag in die EU -Kasse einzahlen.
Da haben wir, mal wieder, Pech gehabt.
14. Die vereinigte Kirche von Europa
Die Sowjetunion war eine Föderation von 15 Unionsrepubliken, die sich laut SU -Verfassung weitgehend selbst regierten. Weißrussland und die Ukraine waren sogar mit je einem Sitz in den Vereinten Nationen vertreten, stimmten aber immer zusammen mit der SU ab. Formal ging alle Gewalt vom Volke aus, das in freien, gleichen und geheimen Wahlen alle fünf Jahre die Vertreter zum Obersten Sowjet der UdSSR wählte, der wiederum aus zwei Kammern bestand: dem Unionssowjet und dem Nationalitätensowjet. Im Nationalitätensowjet waren die Unionsrepubliken, die autonomen Republiken, die autonomen Gebiete und die autonomen Kreise vertreten, etwa so wie die Bundesländer im Bundesrat; im Unionssowjet saßen die in den Wahlkreisen gewählten Deputierten, vergleichbar den Abgeordneten im
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